Logo 2xDeutschland

Sozialpolitik in der BRD

Sozialpolitik in der DDR

DDR-Sozialpolitik
Dr. sc.phil. Stefan Bollinger

Berlin, 01.10.2019

 

Soziale Sicherheit und Sozialpolitik in der DDR – ein Problemaufriss

Soziale Erinnerung und reale politische Konflikte heute

Die heutige politische Auseinandersetzung um die vergangene DDR konzentriert sich auf deren politisches System. Schlagworte von Mauer, Stacheldraht, Stasi sind omnipräsent. Die DDR wird als "Unrechtsstaat" verortet und alle Schuld den SED-Oberen angelastet. Es fällt auf, dass es um tatsächliche oder vermeintliche Machtstrukturen und ihren tatsächlichen oder angeblichen Missbrauch geht, dass die als überaltert, verschuldet, marode erklärte DDR-Volkswirtschaft zum Dreh- und Angelpunkt einer "Revolution" gemacht wird, die so 1989 nie stattgefunden hat. Die DDR-Bürgerinnen und Bürger wollten 1989 in ihrer Mehrheit einen erneuerten, demokratischen, wohl auch pluralen Sozialismus in einem souveränen Staat, aus dem sie auch jederzeit aus- und wieder einreisen können.

Ihnen reichte es nicht mehr, dass sie in ihren Brigadeversammlungen über ihre Chefs herziehen konnten, aber wenig an den gesetzten Plänen oder gar an der großen Politik rütteln durften. Sie träumten von demokratischen Freiheiten jenseits einer allgegenwärtig empfundenen Partei, sie wollten, so die ersten Aufrufe der neuen Bürgerbewegungen, einen gesellschaftlichen Dialog in Zeiten der Krise, der Unzufriedenheit, auch der Ausreisversuche eines erklecklichen, wenn auch noch überschaubaren Teils besonders der jungen Bürger dieses Staates.

Es ging um mehr Mitsprachemöglichkeiten, um das gemeinsame Suchen nach besten Lösungen, auch nach Chefs, die allein wegen ihrer Kompetenz und Integrität akzeptiert wurden. Das prägte die ersten Wochen dieser "friedlichen Revolution", die sich gegen ein stalinistisches System, wohl präziser eines administrativ-zentralistischen Systems richtete und nicht gegen die DDR oder gar auf eine Wiedervereinigung ausgerichtet war.

Und selbst als diese Revolution den DDR-Bürgern ab November von den westdeutschen Landsleuten, ihren Politikern, Parteien, dem bundesdeutschen Staatsapparat und den westlichen Unternehmen abgenommen wurde, blieb eines unumstritten: Wenn schon harte DM, wenn schon kapitalistische Marktwirtschaft, wenn schon bundesdeutsche Demokratie, dann unter Beibehaltung der sozialen Sicherheit, der Geborgenheit, den solidarischen Arbeits- und Lebensbedingungen, wie sie es mit allen Höhen und Tiefen, aller Bevormundung, aber auch aller gewährter oder abgetrotzter Selbstbestimmung, mit allem Eigen-Sinn vier Jahrzehnte lang erlebt hatte.

Die Reformkräfte im 41. Jahr der DDR wollten gerade angesichts der sich immer unvermeidlicher aufdrängenden Vereinigung mit der übermächtigen westdeutschen Bundesrepublik gerade die sozialen Rechte der DDR verteidigen und gleichzeitig die vor allem basisdemokratischen Errungenschaften der "Wende"-Monate in das neue Gemeinwesen einbringen. Das betraf den neuen, gewichtigeren Platz der Gewerkschaften.

Das schlug sich auch in der Sozialcharta des Runden Tisches vom März 1990 nieder. Auch sie bekam keinen Platz im Verhandlungsbesteck der Regierung von Lothar de Maiziere mit der Bundesregierung. Entsprechend fiel der Einigungsvertrag aus, der jenseits einiger Übergangs- und Sonderregelungen das westdeutsche Recht festschrieb.

Das gipfelte im Verfassungsentwurf des Runden Tisches, verabschiedet von allen beteiligten Parteien, und schließlich durch die neuen Regierungsparteien von CDU, DSU, DA und SPD in der frisch gewählten Volkskammer unter den Tisch gekehrt.

Die Erinnerung an soziale Sicherheit und Geborgenheit verbindet bis heute: Auch mit dem Nachgeschmack, dass Medikamente knapp sein konnten, dass manche Urlaubsreise nur mit guten Beziehungen zu bekommen war, dass die Fürsorge mehr denjenigen galt, die im Arbeitsprozess standen, als jenen, die mit Behinderungen und Alter zu ringen hatten und oft eher Unterstützung bei kirchlichen Sozialeinrichtungen fanden.

Das "Es war nicht alles schlecht", Elemente einer post festum vorhandenen DDR-Identität prägt viele Ostdeutsche, wird an die nächsten Generationen weitergegeben. Diese soziale Verbindung ist aber – wie aus den jüngsten Wahlergebnissen im Osten abzulesen – nicht identisch mit politischen Präferenzen in einem Links-Rechts-Schema, findet zum Teil auch seine Resonanz bei jenen, die versprechen, die "Wende zu vollenden", aber nur gegen das "System", gegen "Ausländer" und gegen alles Linke mobil machen.

Abwertung der DDR und ihrer Sozialpolitik

Der Mainstream von Politik und Wissenschaft hat die DDR nach 1989/90 als "totalitäre Diktatur" abgehakt und steht zu dem früh formulierten Anspruch, dieses System in seiner Gesamtheit zu delegitimieren. Daran ändert das aktuelle Anbiedern an die "Lebensleistung der Ostdeutschen" und das Eingeständnis von Fehlern bei der Transformation wenig. Schlicht und einfach geht es den Politikern von CDU/CSU, FDP, SPD und Grünen nur darum, die "falschen" Wahlentscheidungen nicht weniger Ostdeutscher für die AfD rückgängig zu machen. Die DDR ist ihnen ebenso egal und ein Furchtpopanz wie die AfD. Sozialismus wollen sie nicht, damals nicht und erst recht heute nicht, wenn ein Juso-Chef von vergesellschafteten Konzernen träumt (und sicher nicht an die alte DDR mit ihren VEB-Schildern) denkt, erst recht nicht, wen ein rot-rot-grüner Senat in Berlin über Mietendeckelung redet oder Bürgerinitiativen profitgeile Wohnungsunternehmen enteignen wollen.

Für den Mainstream ist klar, dass Sozialpolitik in der DDR, wie weit oder wie eng sie gefasst wird, nur eine Ergänzung des Repressionssystems war. Durch Versorgungsleistungen, Aufstiegsmöglichkeiten oder Privilegien sollte so die Bevölkerung an die Machthaber gebunden und systemkonformes Verhalten belohnt werden. Gleichzeitig bestreiten sie aber, dass dieses System besonders erfolgreich gewesen war.

Dieser Abwertung der Leistung der DDR und ihrer Bürger ist zweierlei gemeinsam:

Erstens eine sträfliche Unterschätzung der integrativen, ja systemkonstituierenden Wirkungen für die DDR. Stattdessen wird vorrangig auf die für die Machtsicherung instrumentalisierte Rolle sozial- oder erziehungspolitischer Maßnahmen und Strukturen abgehoben. Sozialpolitik wird so per Definition zum Zuckerbrot in einem sonst durch die Peitsche beherrschten totalitären System.

Zweitens die Negierung einer positiven Wirkung sozialpolitischer Maßnahmen für breiteste Bevölkerungsschichten, weitgehend unabhängig von ihren politischen und ideologischen Einstellungen. Wer sich nicht offen gegen das System stellte, war Nutznießer. Aktivisten genossen Bevorzugungen, die zwar im Vergleich zur Masse solche waren, aber nicht den eher gleichmacherischen Charakter dieser Gesellschaft in Frage stellten. Hinsichtlich der sozialen Chancengleichheit der Klassen und Schichten sowie der Gleichstellung der Frau sind unverkennbar emanzipatorische Züge festzumachen. Nicht zu übersehen ist allerdings, dass inzwischen auch von vermeintlich Linken diese emanzipatorischen Ansätze der positiven Veränderung der Rolle der Frauen oder der Solidarität an Hand von herausgegriffenen Missständen in Frage gestellt werden.

Das soziale Selbstverständnis ernst nehmen

Eine erfolgversprechende Analyse muss sich auf den Realsozialismus als einen zwar letztlich gescheiterten sozialistischen Versuch einlassen, in denen kommunistische Parteien ihr Verständnis der Ziele der Arbeiterbewegung machtpolitisch umsetzten. Dies waren Gesellschaften - auch und gerade in der DDR -, die sich den Idealen der Arbeiterbewegung verpflichtet fühlten.

Die aus ihrem radikalen Flügel hervorgegangenen politischen Führungen wollten in Übereinstimmung mit mehr oder minder großen Teilen der Bevölkerung eine Gesellschaft frei von Ausbeutung, mit gleichen Chancen für alle Arbeitenden. Sie fanden dafür im Laufe der Geschichte in unterschiedlichem Maße Unterstützung.

Wenn die Linke in Deutschland 1945 die soziale Frage neu stellte und sozialpolitische Ziele formulierte, dann musste sie nicht nur die Kriegstrümmer und zerstörten Ideale wegräumen, einen materiellen wie geistigen Neuaufbau einleiten. Sie musste zugleich eine Alternative zum vorfaschistischen Kapitalismus anbieten, dessen soziale Konflikte den Nährboden für eine faschistische Massenbewegung abgaben. Die neuen Machthaber hatten ebenso eine Antwort auf die Sozialpolitik der Nationalsozialisten zu geben, die mit ihrer KdF-Ideologie und ihrer Führer-Gefolgschaft-Ideologie durchaus spürbare soziale Verbesserungen vollbracht hatten.

Schon im Aufruf der KPD vom Juni 1945 stand der Kampf gegen Hunger, Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit im Mittelpunkt. Eingebunden in die Niederwerfung der Reste des Faschismus in den Köpfen, der umfassende Demokratisierung der Gesellschaft, der Enteignung der Unterstützer des Faschismus und der Kriegsgewinnler.

Die sich neu bildenden freien Gewerkschaften stießen in eine gleiche Richtung vor, auch wenn, ähnlich wie in der Parteienlandschaft, auch diese Bewegung bald in der Logik des beginnenden Kalten Krieges sich spaltete und getrennte Wege ging, ohne dass in Ost wie West der soziale und demokratische Anspruch verloren ging.

Vor allem aber, diese Zielsetzungen entsprachen auch den Intentionen der sowjetischen Sieger- und Besatzungsmacht, die Deutsche wollte, denen es wieder besser geht, die auch langsam begriffen, dass die Niederlage des Faschismus ihnen trotzdem eine neue Chance in einem friedliebenden Land und mit einem starken sowjetischen Partner ermöglichte und die auch – bei allen damals bescheidenen Möglichkeiten – die sozialistischen Perspektiven im Auge behalten sollte. Dazu diente mit dem SMAD-Befehl 17 die Einrichtung einer Deutschen Wirtschaftskommission, eigentlich als die Vorstufe einer gesamtdeutschen, schlussendlich aber dank der Spaltungsbemühungen der Westmächte nur einer ostdeutschen Regierung.

Dazu gehörte auch der SMAD-Befehl 234 von 1947, mit dem wichtige Eckpunkte einer Wirtschafts- und Sozialpolitik verbindlich eingeführt wurden.

Das Problem bestand jedoch von Anfang an darin, dass dieser Sozialismus unter zumindest vierfach unguten Vorzeichen etabliert wurde:

Erstens traten die Kommunisten mit der unbändigen Überzeugung an, sich im Besitz der historischen Wahrheit zu wissen und so eine generelle Absolution für die Durchsetzung der sozialistischen Ideale mit allen Mitteln zu besitzen.

Zweitens vollzog sich dieser realsozialistische Aufbau unter mehr oder weniger strikter Übernahme des sowjetischen, administrativ-zentralistischen Modells. Die Übernahme des sowjetischen Modells schloss allerdings weder nationale Modifikationen - gerade im sozialpolitischen Bereich - aus, noch die innere Entwicklung im Laufe einer partiellen Überwindung unmittelbar stalinistischer Züge.

Drittens war es ein Gesellschaftsmodell, das innere Widersprüche und Konflikte weitgehend ausschloss. Interessenartikulation und -Organisation, Austragung von Widersprüchen, gar differenzierte Krisenregulationsmechanismen waren nicht vorgesehen. Die Machtzentrale wollte alles wissen und alles regulieren, war letztlich dazu aber nicht in der Lage. Alle punktuellen Ansätze, dies zu ändern und mit Widersprüchen politisch umzugehen, in der DDR verbunden mit dem NÖS, wurden abgewürgt, weil sie das Machtmonopol der Partei zu bedrohen schienen.

Viertens war es eine Gesellschaft, die auf die Dominanz der gesellschaftlichen Interessen - genauer dessen, was das Politbüro und ihre Generalsekretäre dafür entschieden - fixiert war. Persönliche und kollektive Interessen hatten sich dem unterzuordnen. So interessierten letztlich allein soziale Menschenrechte und nicht die individuellen, staatsbürgerlichen. Es war eine Gesellschaft, in der die Partei sich für alles verantwortlich fühlte, patriarchalisch und autoritär den einzelnen Bürger umsorgte und in seinen Handlungen zu lenken suchte. Da die Partei faktisch als Sachwalter und Entscheider des vermeintlichen Volkseigentums auftrat, wurde sie auch für alles verantwortlich gemacht, was funktionierte, vor allem aber auch für das, was nicht funktionierte.

Trotzdem war die DDR eine Gesellschaft, die über lange Zeiten in den 1960er und 1970er Jahren durch die eigene Bevölkerung — entgegen dem heutigen pauschalen Negieren - unterstützt wurde. Und es war eine Gesellschaft, die auch von außen für westliche Beobachter seit den 1960er Jahren Akzeptanz und partielle Zustimmung fand.

Prägend für das Selbstverständnis der staatssozialistischen Gesellschaften war das Verhaftetsein der Verantwortlichen in den Denk- und Handlungsstrukturen des fordistischen Kapitalismus. Demzufolge waren Arbeit und Vollbeschäftigung unbedingt erstrebenswerte Größen einer Gesellschaftspolitik und wurden so auch von der Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert. Das Festhalten an dieser Politik ist also weder auf Honeckers Altersstarrsinn noch auf seine mangelnde ökonomische Intelligenz zurückzuführen. Vielmehr waren es für ihn und viele Funktionäre Axiome einer Politik, die aus der Verarbeitung der Erfahrungen mit dem erlebten Kapitalismus, der Konfrontation mit der Bundesrepublik und aus den gemachten Fehlern in der eigenen Politik (1953) abgeleitet wurden.

Für Walter Ulbrichts Nachfolger, Erich Honecker, gab es einen untrennbaren Zusammenhang von Vollbeschäftigung, Preisstabilität und sozialer Sicherheit. Bildung, schöpferische Selbstverwirklichung in Arbeit und Freizeit, unentgeltliche medizinische Betreuung, ausreichende Versorgung im Alter und menschenwürdige Wohnverhältnisse waren sein Credo.

In Zeiten, wo die Bürger Fortschritte spürten, konnte eine solche Politik erfolgreich sein. Seit Ausgang der 1970er Jahre wurden aber mehr und mehr Mangel, das Zurückbleiben hinter den Erwartungen und Versprechungen und den Möglichkeiten der Bundesrepublik offensichtlich. Im Unterschied zu früheren Krisensituationen waren auch keine Lösungsansätze abzusehen. Die Krise entwickelte sich schleichend und wurde von der Führung nach außen hin völlig negiert.

Eine zentrale Maxime des „marxistisch-leninistischen" Politikverständnisses trug in dem hier interessierenden Bereich zweifelhafte Früchte — das „Primat der Politik gegenüber der Ökonomie". Dieses Prinzip war für die wirtschaftlichen wie sozialpolitischen Entscheidungen bestimmend. Im Bereich der Sozialpolitik hat dies in den konsumtiven Orientierungen für breite Bevölkerungsschichten zu einem für die Honecker-Zeit typischen Abkoppeln dieser Leistungen von der Wirtschaftsentwicklung geführt. Die tendenzielle Vorbereitung des ökonomischen Bankrotts, vor dem die DDR Ausgang der 1980er Jahre stand (auch wenn er so vor der politischen Wende nicht eingetreten war und deshalb von bundesdeutscher Seite Anfang 1990 bewusst herbeigeredet wurde), ist wesentlich der durch eigene Leistung nicht gedeckten Überkonsumtion zu verdanken. Mit Hilfe bundesdeutscher Kredite, einer Verschuldung auch im Ostblock, nicht zuletzt aber durch Verbrauch und Zerfall der eigenen materiellen Substanz der Wirtschaft wie auch des sozialen und kulturellen Bereiches der DDR, wurde auf Kosten der folgenden Generationen verbraucht, ohne dass entsprechende materielle Leistungen herbeigeführt wurden konnten.

Hier wird von Sozialpolitik im Sinne der sozialen Sicherung und der aktiven Gestaltung der Sozial- und Bevölkerungsstruktur im DDR-Verständnis ausgegangen. Das betrifft dann das Sozialversicherungssystem, das Gesundheits- und Sozialsystem, den Arbeitsschutz, das Bildungssystem, die Geburtenförderung und Mutterschutz, die Förderung der Familie, den Wohnungsbau und die Einkommensgestaltung sowie die Frauengleichstellung. Das ist insofern sinnvoll, als dies den Intentionen der Politik in der DDR entspricht, sich aber ebenso an die westliche Deutung einer Risikovorsorge im individuellen, aber eben auch im gesellschaftlichen Bereich anlehnt.

Dementsprechend fiel die Politik der kommunistischen Parteien im Ostblock aus, die auf Grund der Besonderheiten ihrer Machtübernahme zunächst mit dem Beseitigen von Kriegsfolgen und dem Verkraften mehr oder minder offener bürgerkriegsähnlicher Situationen sowie Massenfluchten konfrontiert waren. Die realsozialistische Sozialpolitik hatte im Unterschied zu ihrem westlichen Pendant im Prinzip nie Schwierigkeiten, ihre Leitbilder zu bestimmen. Sie ergaben sich notwendigerweise aus dem ursprünglichen Anliegen der sozialistischen Bewegung. Es ging in diesem Sinne nicht um eine Risikoabsicherung schlechthin, z. B. ein besseres Versicherungssystem, sondern um die Verwirklichung eines solidarischen Prinzips, wie es aus den Kämpfen der Arbeiterbewegung beispielhaft abgeleitet wurde. Wobei das Setzen auf das Solidarprinzip, die Verantwortung der ganzen Gesellschaft für den einzelnen, die dafür seine Unterordnung und seine Pflichten einforderte, sich vom Subsidiaritätsprinzip moderner westlicher Konzepte unterschied.

Merkmale staatssozialistischer Sozialpolitik

Die Begründung der sozialistischen Arbeiterbewegung durch Marx und Engels war mit einer Anklage gegen die durch den Kapitalismus bedingte soziale Frage verbunden, zuerst verstanden als Unterdrückung und Ausbeutung der Proletarier. Durch einen radikalen Schnitt, eine Revolution sollte diese Frage gelöst werden. Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel sollte die Eigentumsfrage zu Gunsten der bislang Besitzlosen entscheiden und mit der Diktatur des Proletariats dauerhaft die Macht der bislang unteren Klassen errichten - mit dem Ziel der Aufhebung der Klassen wie der Macht selbst. "Zentralisation", "gleicher Arbeitszwang für alle", "allmähliche Beseitigung des Gegensatzes von Stadt und Land", "öffentliche und unentgeltliche Erziehung aller Kinder, Beseitigung der Kinderarbeit, "Vereinigung der Erziehung mit der materiellen Produktion" standen als Aufgaben einer sozialistischen Politik mit sozialer Ausrichtung bereits im "Kommunistischen Manifest". Die Orientierungen auf eine Gesellschaft frei von Ausbeutung, Hunger und Not, mit Bildung, Gesundheit, Wohnungen für alle war unmissverständlich. Die Beseitigung der Klassenspaltung in Ausbeuter und Ausgebeutete, Arme und Reiche, die Aufhebung des Gegensatzes von Stadt und Land, die Gleichstellung der Frau wurden zu Eckpunkten sozialistischen, auch staatlichen Selbstverständnisses. In der Praxis der osteuropäischen Gesellschaften fand der Staat hierin seine Aufgabe, die Wirtschaft hatte diesen Zielen zu dienen. So die Theorie und so die Programmatik. Schon differenzierter — und in der Geschichte des Realsozialismus unterschiedlich akzentuiert - war das Selbstverständnis dieses geplant zu betreibenden Prozesses.

Generell lassen sich einige zentrale Merkmale einer staatssozialistischen Sozialpolitik zeigen.

  • Beseitigung der bisherigen Klassenspaltung und Aufhebung privatkapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse. Damit verbunden war eine gezielte Umverteilung zu Lasten der Kapitalisten und Großgrundbesitzer, später auch der Kleinkapitalisten, Selbständigen und Großbauern. Die bisher Ausgebeuteten sollten unmittelbar den Erfolg des Umbruchs spüren, ihn unter Führung der Partei mitgestalten. Durch restriktive staatliche Eingriffe, teilweise als Willkürakte, wurden tiefe Schnitte in der Eigentumsstruktur vollzogen.

  • Soziale Gerechtigkeit wurde angestrebt und deklariert, oft allerdings als Gleichmacherei praktiziert. Das sicherte zwar weitgehend gleichen Zugang zu knappen Ressourcen, aber es war oftmals eine seit dem "Kriegskommunismus" Sowjetrusslands — nur später auf etwas höherem Niveau — praktizierte gleiche Verteilung des Mangels. Letztlich bremsten aber soziale Gleichheit und fehlende Differenzierungen Motivation und Verantwortung.

  • Sicherung gleicher Chancen. Den Arbeitern, Bauern und deren Kinder sollte der Zugang zu Bildung und beruflichen wie gesellschaftlichen Aufstieg garantiert werden. Die Arbeiter- und Bauern-Fakultäten (ABF) der frühen DDR waren ein Versuch einer solchen Umverteilung von Bildungschancen und positiver Diskriminierung. Mit den 1970er Jahren schlug dieses allerdings nach dem Entstehen einer eigenständigen Intelligenz und der nunmehrigen faktischen Bevorzugung der Kinder der Nomenklatura ins Gegenteil um.

  • Gleichberechtigung der Frau insbesondere im Arbeitsbereich. Die Frauen erhielten gleiche Chancen. Soziale Maßregeln - vor allem der Förderung der Vereinbarkeit von Mutterschaft und Arbeit - gaben ihnen größere Möglichkeiten, ohne jedoch eine umfassende Veränderung der patriarchalen Rollen- und Hierarchiemuster zu bewirken.

  • Gezielte Krisenverhinderung, vor allem von Unzufriedenheit der Arbeiter. Politische Stabilität sollte gewahrt werden - unter allen Umständen und um jeden Preis. Dies war dann die zentrale Überlegung des von Honecker initiierten Kurswechsels. Krisenregulationsmechanismen gab es nicht. Das Streikrecht war zwar in der Verfassung von 1949 (gültig bis 1968) garantiert, aber spätestens seit 1953 lag auf dem Streik das Odium des Staatsverbrechens.

  • Anspruch einer historischen Mission der DDR für Deutschland. Bis Ende der 1960er Jahre wollte die DDR als Verkörperung einer historischen Alternative für Westdeutschland Vorbildcharakter besitzen. Mit den Erfolgen der Entspannungspolitik, dem Verzicht auf gesamtdeutsche Einheitsziele und dem zunehmenden wirtschaftlichen Rückstand wurde das in der Folge aber aufgegeben.

Notwendigerweise ergeben sich einige Prämissen, die zu beachten sind und die hinter manchen Sprachreglungen versteckt liegen: Jeder Politikbereich, also auch die Sozialpolitik wurden von der Partei und ihrer „weisen Führung" für die Gesellschaft betrieben - oder, wie es Jürgen Henrich 1989 berechtigt nannte, es war die Politik eines "vormundschaftlichen Staates". Das bedeutet die Definitionsmacht der obersten Führung über die gesellschaftlichen Interessen und eine nur bedingt flexible Rückkopplung auf anders geartete Interessen und Vorschläge der Basis.

Die Sozialpolitik besaß selbst eine machtpolitische Dimension, war in bestimmtem Umfange eine Gegenleistung für gesellschaftliches Wohlverhalten des einzelnen Bürgers und eine naturgemäß mit der Integration der vermeintlich die Macht innehabenden Klassen verbundene Politik. Sozialpolitik in der DDR war allerdings auch eine Politik, die unmittelbar auf die in sich sozial nur begrenzt differenzierte Gesellschaft gerichtet war, die alle Bürger gleichermaßen erreichte und die nicht zwischen wirtschaftlich Starken und Schwachen umverteilen musste. Mindestlöhne und -renten sicherten ein zumindest bescheidenes Auskommen. So wundert es nicht, dass 1989 nur 5.535 DDR-Bürger Empfänger laufender Sozialfürsorgeunterstützungen waren (1970: 56.966) und 77.264 einmalige Beihilfen gewährt wurden. Dass in dieser realsozialistischen Gesellschaft durchaus soziale Differenzierungen zwischen denen "da oben" und denen "da unten" existierten, es Privilegien gab, steht dem nicht entgegen. Es war eine dem Staatsverständnis entsprechende zentralistische Politik, die nach der Abschaffung der Länder 1952 von Ministerrat und FDGB realisiert wurde. Dabei war die Schaffung einer Einheitsversicherung für Arbeiter, Angestellte und Staatsbedienstete sowie die Aufhebung unterschiedlicher Kassen für Rente, Gesundheit oder Arbeitslosigkeit mit minimalem bürokratischem Aufwand realisiert. Risikoabsicherung und Arbeitsschutz, aber auch wesentliche Elemente der Freizeit/Erholungsgestaltung waren ab 1956 vollständig dem FDGB übertragen.

Die Betriebe wurden zu Schlüsselinstitutionen der Sozialpolitik, die auf die einzelnen Kollektive ausgerichtet war. Das ging zwar zu Lasten der Arbeitsproduktivität, weil ein Teil des betrieblichen Arbeitsvermögens damit im weitesten Sinne sozialpolitische Aufgaben abdeckte bzw. Beschäftigte integriert wurden, die aufgrund ihrer sozialen Defizite und/oder ihrer Behinderungen nicht als voll leistungsfähige Arbeitskräfte gelten konnten. So sicherte aber diese Sozialpolitik eine hohe Wirksamkeit und auch ein gewisses demokratisches Moment durch Eigenaktivität von Individuen und Basiskollektiven. Dies nur als hinterhältige Art der Kanalisierung und Kontrolle zu interpretieren, verkennt, dass genau in dieser Betriebsbezogenheit Traditionen der Arbeiterbewegung fortzusetzen versucht wurde. Tatsächlich beeinträchtigte die Konzentration sozialpolitischer Aufgaben (neben den Mechanismen und Strukturen der politischen Einflussnahme) im Betrieb die Produktivität. Das wird heute gern als "versteckte Arbeitslosigkeit" apostrophiert, ohne allerdings deutlich zu machen, dass diese Aufgaben so oder so von der Gesellschaft gelöst werden sollten.

Zwischen Lernschock und sozialen Geschenken

Die Entwicklung der Sozialpolitik war unmittelbar gebunden an politische Grundentscheidungen der SED-Führung, die zwar an den sozialistischen Leitbildern orientiert, aber praktisch von jeweils inneren und äußeren Faktoren abhängig waren. Grob lassen sich fünf Phasen festmachen, die jeweils nach inneren Zäsuren und nach Rückwirkungen der Entwicklung in anderen Ländern zu beobachten waren.

Erstens gab es unmittelbar nach dem Krieg in der SBZ und beim Aufbau der DDR eine Phase des Wiederaufbaus des sozialen Sicherungssystems. Es wurde konsequent verstaatlicht und zentralisiert, wobei die Gewerkschaften mit der Verantwortungsübertragung für die Sozialversicherung zu einem besonderen "Transmissionsriemen" für diesen Bereich mutierten. Als Interessenorganisation der als führend deklarierten Klasse wurden sie unmittelbar zur Verwirklichung der auf die arbeitenden Menschen gerichteten Politik verantwortlich gemacht.

Angesichts des Koreakrieges und der Kriegsbefürchtungen Stalins wurde 1952/53 jedoch ein Kurs der forcierten Aufrüstung und Wirtschaftsentwicklung mit Schwerpunkt auf die Schwerindustrie eingeleitet. Unmittelbare Verschlechterungen der sozialen Lage, Preiserhöhungen für Waren des Grundbedarfs und Bahntarife, die Benachteiligung der Selbständigen durch Streichung von Lebensmittelkarten und in der Sozialversicherung, vor allem die administrative Erhöhung der Arbeitsnormen sollten zusätzliche Mittel mobilisieren. Tatsächlich aber kam es zu wachsendem Unmut und schließlich zum Ausbrechen eines Arbeiteraufstandes am 16. und 17. Juni 1953.

Zweitens. Der noch unmittelbar davor unter sowjetischem Druck eingeleitete "Neue Kurs" hielt das nicht mehr auf, zumal alle sozialen Schichten zwar wieder besser gestellt wurden, aber in der Normenfrage die Arbeiter keine Zugeständnisse erhielten. In den nächsten Monaten wurde nach der Niederschlagung der Unruhen ein bevölkerungsfreundlicher Kurs fortgesetzt. Reparationskürzungen, sowjetische Hilfe und Verzicht auf ehrgeizige Rüstungs- und Schwerindustrieprojekte machten Mittel für die Konsumtion frei. Trotz späterer Rücknahme des „Neuen Kurses" wurden die sozialpolitischen Maßnahmen beibehalten. Als Antwort auf die Reformversuche 1956/57 wurden zusätzliche Mittel in die Sozialleistungen umgeleitet. Die SED-Führung zog aus den damaligen Ereignissen, der für sie als "Lernschock" (Martin Jänicke) wirkte, die Lehre, nie wieder Einschränkungen zu Lasten der Arbeiterklasse und einer Verschlechterung ihrer Lebenslage zuzulassen. Stabile Preise, ausreichende Versorgung, Sicherung sozialer Mindeststandards, Verzicht auf administrative Normerhöhungen sollten die Politik in den nächsten 36 Jahren charakterisieren. Immer, wenn es hier punktuell Abweichungen gab, wenn andersartige Vorschläge gemacht wurden, war der Verweis auf die damaligen Erfahrungen ausschlaggebend. Trotzdem brachten die Absenkung der Akkumulationsrate und die 1959/60 forcierte Kollektivierung der Landwirtschaft nicht die erhofften Effekte, sondern verursachten Massenfluchten und ökonomische Krise. Der Mauerbau schuf neue, erstmals wesentlich durch die DDR selbstbestimmte Rahmenbedingungen.

Drittens zwang in den 1960er Jahre das NÖS die SED-Führung zur Erkenntnis, dass entgegen ihrer bisherigen theoretischen Vorstellung - weniger der Praxis - eine aktiv gestaltende Sozialpolitik für die weitere Wirtschaftsentwicklung unverzichtbar war. Wenn die wirtschaftliche Effizienz bestimmend werden sollte, dann mussten auch die sozialen Auswirkungen beherrscht werden. Arbeitszeitverkürzung, die schrittweise Einführung der 5-Tage-Arbeitswoche, die Erwartung, dass Freizeit zur notwendigen Qualifizierung genutzt würde, Rentenerhöhungen, der Übergang zu einem komplexeren Angebot von Bildung in der nunmehr 10-klassigen polytechnischen Oberschule und einem reformierten Hochschulsystem, also Leistungen, die in Gestalt von Bildung und Arbeit im Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Zielen standen, waren Eckpunkte des NÖS. Ulbricht wollte allerdings diese Leistungen nur gekoppelt an die wirtschaftliche Entwicklung. Deshalb war er durchaus zu Abstrichen und langsamerem Tempo zugunsten der Zukunft bereit, um den Rückstand zum Westen aufzuholen.

In völlig neuer und erweiterter Art und Weise wandte sich die SED mit dem Beginn des NÖS an die künftige Generation, die Jugend, und an die Frauen. Sie sollten beide sozialen Gruppen zu einer Stufe der Emanzipation führen, die die sozialistische Gesellschaft voranbringen würde.

Auch wenn gerade in der Jugendfrage schnell die Sorge um einen Machtverlust bremste, so bleiben beide Aufgaben während der gesamten Existenz der DDR zentral. Die eingeleitete Emanzipation der Frauen brachte und bringt bis heute einen zivilisatorischen Zugewinn, der den Platz, die Würde und die Ansprüche der ostdeutschen Frauen bestimmt.

Dies führte in einer vierten Zäsur 1970/71 zur Auseinandersetzung im SED-Politbüro, in der Honecker und seine reformunfreundliche Fraktion sich gegen Ulbrichts hochgesteckten Wirtschaftsziele stellte. Teilweise zu hochgeschraubte innovative Investitionen hatten Disproportionen begünstigt, der strenge Winter 1969/70 trug ein Übriges bei, Versorgungsprobleme auftreten zu lassen. Im Herbst 1970 begann vor dem Hintergrund des durch Honecker mit Moskaus Duldung betriebenen Sturzes eine Korrektur von Fehlern der Ulbrichtschen Wirtschaftspolitik, die unmittelbar in die Beendigung des NÖS umschlug.

Zentrales Anliegen Honeckers seit dem VIII. SED-Parteitag 1971 sollte die „weitere Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes auf der Grundlage eines hohen Entwicklungstempos der sozialistischen Produktion, der Erhöhung der Effektivität, des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und des Wachstums der Arbeitsproduktivität" sein. Diese "ökonomische Hauptaufgabe" zunächst des damaligen Fünfjahrplanes 1971/75, später der gesamten Wirtschafts- und Sozialpolitik, war nicht neu. Neu war die Konsequenz, mit der mehr Konsum und mehr sozialpolitische Leistungen mit erhöhten Mindestlöhnen und Renten sowie Subventionen den Lebensstandard bereits in der Gegenwart merklich verbessern sollten.

Ehrgeizige sozialpolitische Programme, vor allem deutliche (trotzdem unzureichende) Rentenerhöhungen, ein umfangreiches Wohnungsbauprogramm ab 1973 und eine Bevölkerungspolitik zur gezielten Förderung von jungen Ehen, Kinderreichen und Kindern sorgten dafür, dass die alsbald als Schlagwort deklarierte "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" zum Synonym einer auf den Menschen gerichteten Politik wurde. Mit diesem Kurswechsel, der auch Honeckers persönlichen legitimatorischen Bedürfnissen entsprach und eine Antwort auf Ulbrichts strategische Ziele darstellte, reagierte die SED-Führung nicht zuletzt nachdrücklich auf die polnische Krise vom Dezember 1970. Diese erinnerten Honecker (allerdings auch Moskau, das damals auf seinem XXIV. Parteitag ähnlich akzentuierte) deutlich an die Vorgeschichte des 17. Juni 1953.

Ein fünfter Einschnitt zeichnete sich angesichts des Erdölpreisschocks auf den internationalen Märkten und den ersten Fernwirkungen für die DDR ab, die Vorboten eines Wandels der Produktionsweise waren. War Wirtschaftsexperten schon 1972 klar, dass die DDR aus eigener Kraft einen nicht durch gleichzeitiges Leistungswachstum abgesicherten sozialpolitischen Kurs finanzieren konnte, so musste mit den Wandlungen auf den Weltmärkten generell eine neue, nicht mehr kompensierbare Zwangssituation entstehen. Die sozialpolitischen Leistungen stiegen weit schneller als die wirtschaftliche Leistungskraft der DDR. Honecker suchte sein Heil im massiven Import von Investitions-, aber auch von Konsumgütern. Die Verschuldung stieg rapide an. Wirtschaftsexperten begriffen, dass dieses Leben auf Pump an der Substanz der Wirtschaft dauerhaft zehrte. Wiederholte zaghafte Vorstöße der Staatlichen Plankommission wurden politisch durch Honecker und Günter Mittag abgeschmettert. Letztlich führte das zum Ruin. Im Herbst 1989 zeigte sich, dass eine Korrektur zu erheblichen Einschnitten in den Lebensstandard der Bevölkerung führen müsste. Ein politisches Überleben war so bereits nicht mehr möglich.

Die Bilanz ist problematisch

Es waren zumindest vier wesentliche Bereiche, die die Sozialpolitik Honeckers auszeichneten und die auch im Nachhinein - neben der Arbeitsplatzsicherheit — zu den bleibenden Eindrücken vieler DDR-Bürger gehören:

Erstens die rigorose Förderung der jungen Familien und der Mütter mit Kindern. Durch Gewährung von Krediten für Familie mit Kindern, Bereitstellung von Kinderkrippen- (Versorgungsgrad 1989: 80,2 Prozent) und -gartenplätzen (1989: 95,1 Prozent), Garantie des Arbeitsplatzes während des Mütterjahres sorgte die SED-Führung für die junge Generation. Männer wie Frauen wurden gleichermaßen zur Arbeit herangezogen. Damit erreichte die DDR, dass 91,2 Prozent der Frauen im arbeitsfähigen Alter tatsächlich arbeiteten. So machte sie auch aus der Not eine Tugend und suchte ihren akuten Arbeitskräftemangel mit einer hohen Frauenerwerbsquote zu lindern. Entscheidend für viele Frauen war aber, dass sie ein gutes Stück Gleichberechtigung erworben hatten. Kostenlose und qualitativ durchaus anerkannte Bildung und Gesundheit sorgten dafür, dass die Förderung der Jugend umfangreich ermöglicht wurde.

Zweitens diente das 1973 beschlossene Wohnungsbauprogramm einem wichtigen Anliegen vieler Menschen. Eine trockene und warme Wohnung für alle war erklärtes Ziel. Mit dem forcierten Wohnungsbau seit den 1970er Jahren wurden andere Schwerpunkte als in den 1950/60er Jahren gesetzt, wo Industriebau sowie repräsentative Stadtzentren im Mittelpunkt standen (gebaute Wohnungen repräsentativ für das jeweilige Jahrzehnt: 1965: 68.162, 1985: 115.722). Mit industriemäßigen Methoden wurden für ca. 8,5 Millionen Bürger (1985) die Wohnverhältnisse qualitativ verbessert. Dass dabei die Innenstädte vernachlässigt wurden und die Plattenbauten oft ohne ausreichende infrastrukturelle Einbindung entstanden, war Folge der begrenzten ökonomischen Ressourcen und einer "tonnenideologischen" Zahlenhascherei.

Für die Aufbaugeneration kamen diese Maßnahmen durchweg zu spät, was spätestens seit den 1980er Jahren den Unmut verstärkte. Drittes Ergebnis war deshalb die Einführung einer freiwilligen Zusatzrentenversicherung (FZR), die seit 1971 den Beschäftigten bessere Möglichkeiten durch freiwillige Zahlungen zur Aufstockung der insgesamt zu geringen Renten gab. Insgesamt blieben die Renten jedoch gering, allein die bescheidenen Mindestrenten (1989: 340 Mark) und die hohe Subventionierung von Mieten und Waren des täglichen Bedarfs verhinderten, dass die Armut zu gravierenden Existenzproblemen führte. Die durchschnittliche Altersrente betrug 1988 ohne FZR 375,99 Mark und mit 478,51 Mark, was 38,6 bzw. 49,1 Prozent der durchschnittlichen Nettolöhne und Gehälter entsprach, wobei diese Relation sich in den 1980er Jahren systematisch verschlechterte.

Viertens war das besondere Markenzeichen der Sozialpolitik der Honecker-Ära die "2. Lohntüte", d.h. direkte und indirekte Subventionen zur Sicherung stabiler Preise für Konsumgüter und Dienstleistungen. Obwohl besonders in den 1980er Jahren die Preisstabilität mehr und mehr durch Kombinate und Zentrale unterlaufen wurde (die Lebenshaltungskosten stiegen von 1980 zu 1989 um 12,3 Prozent) wurden die stabilen Preise und Tarife zur ökonomischen Falle. Dies alles belastete eklatant den Staatshaushalt, führte dazu, dass aus diesen Mittel die Kosten sowieso nicht gedeckt werden konnten, aber zunehmend auch aus anderen Bereichen keine Umverteilung mehr möglich war und zugleich Verschwendung (z. B. Lebensmittel), Subventionsmissbrauch (z.B. das Füttern der heimischen Viehs mit subventionierten Brot statt mit Getreide) zunahm.

Trotz der Leistungen und großer Anstrengungen war die Sozialpolitik in sich widersprüchlich und letztlich verhängnisvoll, was letztlich die unmittelbaren Konsequenzen im Wendeherbst 1989 wie auch in der danach folgenden Verarbeitung der Einigungserfahrungen belegen. Positiv stellten sich die gesicherte Vollbeschäftigung und die weitgehenden Chancengleichheit für alle Bürger bei der Erlangung von Bildung und Gesundheit dar. Damit wurde ein wichtiges emanzipatorisches Anliegen verwirklicht. Insofern ist die vorwurfsvolle Feststellung, dass die "sozialistische Sozialpolitik" nur auf die Sicherung der Arbeitskräfte gerichtet war, nur bedingt zutreffend. Richtig ist das Bemühen der SED-Führung, den ständigen Mangel an Arbeitskräften durch eine hohe Erwerbsquote bei Frauen und Rentner sowie langfristig eine hohe Geburtenfreudigkeit (bei großzügigem Abtreibungsrecht) abzusichern. Gleichzeitig war es aber eine Politik der Vollbeschäftigung, die die Arbeit und den Betrieb zu Dreh- und Angelpunkten eines Gesellschaftsverständnisses machte. Der Staat fühlte sich verantwortlich für die Menschen und ihr Schicksal und dies wurde - oft widerwillig - von der Mehrheit akzeptiert. Seit Anfang der 1960er Jahren wurden keine Arbeitslosen mehr registriert, im Gegenteil, es erfolgte eine gezielte Lenkung der knappen Arbeitskräfte. Die Menschen konnten sich in dieser Gesellschaft einrichten, waren in ihrer weiteren Entwicklung vorbestimmt und standen nur in sehr geringem Maße vor existentiellen Entscheidungen.

Mit dieser hohen sozialen Absicherung stellte die DDR tatsächlich eine Alternative zu vielen kapitalistischen Ländern dar und erwies sich partiell hinsichtlich der Garantie von Arbeit, Wohnung, Bildung und Gesundheitsfürsorge, mit der erreichten Gleichberechtigung der Frau in wichtigen Fragen der Bundesrepublik zumindest als ebenbürtig oder überlegen. Durch die konsequente Verstaatlichung waren die sozialpolitischen Einrichtungen - Gesundheitswesen, Altersheime, Bildungseinrichtungen - frei von Gewinn- und Profitstreben, so dass nach Maßgabe der Verfügbarkeit der begrenzten Ressourcen ein gleichberechtigter Zugang für alle möglich war. Privilegierungen von Funktionsträgern gab es jedoch, ebenfalls Sonderstellungen wichtiger sozialer Gruppen, die teilweise Zugang zu deutlich besseren Ressourcen hatten. Das war besonders im Gesundheitswesen relevant.

In der DDR bildeten sich - nicht zuletzt dieser Nonprofitorientierung geschuldet - Strukturen und Versorgungsgrade heraus, die offenkundig auch für die gesamtdeutsche Perspektive wünschenswert wären. Das betrifft sowohl Kinderkrippen- und vor allem Kindergartenplätzen, kulturelle, sportliche und allgemeine Freizeitgestaltung für Kinder und Jugendliche, günstige Zugangsmöglichkeiten und soziale Absicherungen von Berufsausbildung und Studium, Erwachsenenbildung und -Weiterbildung. Für alle Bürger konnte eine soziale Sicherung aufgebaut und erhalten werden, die soziale Randgruppen weitgehend ausschloss. Insbesondere alleinerziehende Mütter standen nicht vor dem sozialen Abgrund. Benachteiligt waren die Rentner, ohne allerdings mit ihrer relativen Armut ausgegrenzt zu sein. Ebenfalls zu wenig wurde für Behinderte und chronisch Pflegebedürftige getan. Das war zudem der Bereich, in dem kirchliche Einrichtungen weitgehende Aufgaben zugebilligt bekamen. Notwendig ist für die historische Bewertung, aber erst recht für ein dialektisches Aufheben der sozialen Sicherheit und der Sozialpolitik der DDR - neben den nicht zu unterschätzenden positiven Grundaussagen - nach den Problemen und den Ursachen für die Bereitschaft einer Mehrheit der DDR-Bürger zu fragen, 1989/90 dieses System aufzugeben. Sie hofften damals auf die Verbindung der besten Seiten beider Systeme und sahen im gepriesenen bundesdeutschen sozialen Sicherungssystem einen zumindest gleichwertigen Ersatz. Das lag offenkundig an den problematisierenden und negativen Momenten der DDR-Wirklichkeit.

Das betrifft zum ersten die nie geschlossene Kluft zwischen den sozialpolitischen Ansprüchen und den Möglichkeiten der Wirtschaft, diese zu befriedigen. Der ständige Mangel - resultierend aus dem Verzicht auf marktorientierte Reformen - begrenzte die Erfüllbarkeit der gesteckten Ziele und zwang zur selbstzerstörerischen Flucht in Kredite und Auszehrung des vorhandenen Potentials. Die Leistungen für die Sozialpolitik waren dabei einer der Gründe, die zum Scheitern des Wirtschaftsmodells führten, aber nicht der ausschlaggebende.

Zweitens gelang es nur bedingt, einen eigenen sozio-kulturellen Maßstab aufzubauen. In den Anfangsjahren stand zwar das Ziel eines "neuen Menschen" im Vordergrund, wurden gar Grundsätze einer sozialistischen Moral und Ethik formuliert, im Weiteren verlor dieser Versuch aber seine Wirksamkeit. Waren die sozialpolitischen Ausrichtungen am Anfang eine Fortschreibung der Traditionen und Strukturen Weimars sowie die Übernahme sowjetischer Erfahrungen, bestimmten im Weiteren allein die ökonomische Zweckmäßigkeit und der Vergleich mit der Bundesrepublik die Entscheidungen. Dabei zeigte sich aber spektakulär bei Wochenarbeitszeit oder Urlaub, erst recht in den unmittelbar vom materiellen Niveau abhängigen Gesundheitswesen die zunehmende Kluft zur Bundesrepublik. Studierten in den 1960er Jahren bundesdeutsche Wissenschaftler und Praktiker noch DDR-Polytechnik und -Kinderbetreuung als Vorbild, musste angesichts dieser Rückstände die Beispielwirkung verlorengehen. Die DDR blieb in ihren Ansprüchen letztlich einem fordistischen Modell verhaftet und konnte den Erwartungen für eine an moderner Wissenschaft und Technik orientierten Wirtschaft und Gesellschaft nicht mehr gerecht werden.

Das hing drittens mit den patriarchalisch-vormundschaftlichen Charakter gewährter Sozialleistungen zusammen. Während in der Bundesrepublik seit den ausgehenden 1960er Jahren in Gefolge von Studentenbewegung und Technologierevolution individualistische und antiautoritäre Konzepte bestimmend wurden - selbstbestimmte Entscheidungen und z. B. Selbsthilfe als Werte und Lebensweisen anerkannt wurden -, war dies in der DDR wenig typisch. Hier bestimmte die Gewährung von Leistungen, die einbindende Sorge. Das schloss demokratische Aktivitäten vor allem auf unterster Ebene durch FDGB-Ferienkommission, Sozialversicherungs- oder Arbeitsschutzbeauftragten in den Brigaden nicht aus. Sie beeinflussten die Vergabe von Urlaubsplätzen, Kuren oder die Durchsetzung von Arbeitsschutzvorschriften. In die größeren Zusammenhänge konnten sie aber nicht eingreifen. Insofern ist die Bestimmung der DDR als eine "Fürsorgediktatur" (Konrad H. Jarausch) in dem hier gewählten Zusammenhang sinnvoll und nutzbringend.

Viertens unterliefen die sozialpolitischen Maßnahmen, insbesondere die Subventionspolitik den selbstgesteckten Anspruch, eine sozialistische Leistungsgesellschaft sein zu wollen.

Ausgewählte Kennziffern einiger sozialpolitischer Ausgaben

Einerseits wurde überall deutlich ausgesprochen, dass nur das verbraucht werden könne, was produziert wurde. Andererseits lebte die Gesellschaft mehr und mehr auf Pump. Betriebe wie Sozialeinrichtungen oder Städte verschlissen. Immer weniger wurde akkumuliert, mehr und mehr konsumiert. Gleichzeitig sorgten die Subventionen dafür, dass die sowieso schon geringen Leistungsanreize in den Löhnen und Gehältern noch geringer wirkten. Wobei der Mangel an Waren und Dienstleistungen zudem die Sparguthaben ständig anschwellen ließ, ohne dass sie realisiert werden konnten.

Fünftens schließlich erwies es sich als problematisch, mit Hilfe der Sozialpolitik die Sozialstruktur umzukrempeln. Zwar gelang es, die Grenzen der Klassen und Schichten aufzulösen, vor allem eine neue Intelligenz zu schaffen. Es begann der Übergang zu einer durch Segmentierungen bestimmten, aber in sich doch homogenen und nivellierten Gesellschaft. Die Frauen waren fast durchgehend berufstätig. Ihnen wurden die Wege zur Arbeit geöffnet, der Staat kümmerte sich um die Kinder. In der DDR gab es mit der völligen juristischen Gleichstellung von Mann und Frau, der ökonomischen Unabhängigkeit der meisten Frauen sowie dem gleichberechtigten Öffnen von Bildung und Ausbildung nicht ausgefüllte Ansätze für weitergehende Möglichkeiten. Entscheidend war aber, dass bei Arbeitsteilung wie Machtverhältnisse die Geschlechtertrennung noch nicht überwinden konnte. Selbst der Gleichheitsgrundsatz bei der Bezahlung wurde durch die vorrangige Zuordnung von geringer bezahlten Arbeiten unterlaufen. So erhielten weibliche Produktionsarbeiter 1989 immerhin 11,8 Prozent weniger Nettolohn wie ihre männlichen Kollegen.

Was für das Scheitern der DDR-Sozialpolitik relevant ist, das liegt offenbar auf der Hand: der Verzicht auf eine konsequente ökonomische Absicherung der Maßnahmen, die fehlende demokratische Diskussion über Gestaltungsvarianten und Korrekturen zugunsten von kostengerechten Preisen und Tarifen, die Klärung, was unter modernen Bedingungen überhaupt notwendig ist. Hier sind auch für künftige alternative Politikansätze die Fragen zu stellen. Vor allem aber ist angesichts des neoliberalen Kurses die Wertigkeit von Arbeit, von sozialen Mindeststandards, von Staatsverantwortung für soziale Aufgaben relevant. Je nach Antwort zu diesen Fragen wird auch die Bewertung des realsozialistischen Versuchs ausfallen müssen.

Allerdings, soziale Sicherheit um den Preis ökonomischer Ineffizienz und ungedeckter Schecks, vor allem aber um den Preis des Ausschaltens demokratischer Willensbildung und bürgerlicher Freiheiten, das musste von Beginn an den Selbstzerstörungsmechanismus einer Gesellschaft in Gang setzen, die mit so hohen Idealen antrat.

Anlage: Ausführliche Literaturliste zum Themenkomplex

Der vorliegende Text basiert in längeren Passagen auf zwei früheren Arbeiten von mir zum Thema:

  • Stefan Bollinger: Soziale Sicherheit und Sozialpolitik in der DDR - Anspruch, Wirklichkeit, Wertungen. In: Ludwig Elm/Dietmar Keller/Reinhard Mocek (Hrsg.): Ansichten zur Geschichte der DDR. Bd. 11.. Eggersdorf 1998, S. 403-426;

  • Ders.: Sozialstaat DDR. Überlegungen zu Geschichte und Gegenwart (= hefte zur ddr-geschichte. H. 94). Berlin 2005.

In beiden Arbeiten findet sich jeweils ein umfassender wissenschaftlicher Apparat.

Die verlinkten Dokumente sind an Hand ihrer eingedruckten Quellenangabe bzw. des Links zu identifizieren. In einigen Fällen wurde zurückgegriffen auf zwei auch ansonsten ergiebigen elektronischen Quelleneditionen:

  • Deutsches Historisches Institut: Deutsche Geschichte in Dokumenten und Bildern (DGDB). Washington, DC 2003ff - http://germanhistorydocs.ghi-dc.org/index.cfm -

  • Hans Georg Lehmann (Hg.): D-DOK. Deutschland-Dokumentation 1945–2004. Politik, Recht, Wirtschaft und Soziales (DVD). Bonn 2004