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Sozialpolitik in der BRD

Sozialpolitik in der DDR

Chronik ausgewählter Entscheidungen deutscher Sozialpolitik

1990 ff.

1990

 

12.02.1990 DDR

Beim Anschluss der DDR und der Übernahme ihrer Wirtschaft kommt die Idee der Volksaktie analog der Privatisierung des Bundesvermögens vom 24.03.1959 in der BRD auf, jedoch nicht zum Tragen. Die Treuhand setzt auf schnellen Ausverkauf des DDR-Vermögens. Es ist die Idee der Bürgerbewegung, jedem DDR-Bürger seinen Anteil am Volksvermögen zu sichern. Der Theologe Wolfgang Ullmann hat sie am 12. Februar 1990 als Vertreter von „Demokratie jetzt“ dem Runden Tisch vorgelegt. Die Privatisierung der ostdeutschen Wirtschaft verläuft nach dem Anschluss unprofessionell, endet ohne Nachhaltigkeit mit riesigen Schulden und einem gesellschaftspolitischen Desaster.

02.05.1990 DDR

Vereinbarung über Umtauschkurse, wie im kommenden Staatsvertrag festgelegt. In der DDR kommt es zu Demonstrationen, Warnstreiks, Grenz- und Straßenblockaden, da negative Auswirkungen des Staatsvertrages vor allem in sozialen Bereichen befürchtet werden.

16.05.1990 DDR

Konstituierende Sitzung einer Gemeinsamen Bildungskommission auf Ministerebene der Regierung Kohl (BRD) und der Regierung de Maizière (DDR). Es folgen zwei weitere Sitzungen am 21.06. und abschließend am 26.09.1990. Die BRD-Seite erklärt die Bereitschaft des Bundes und der Länder, die DDR “in ihren Reformanstrengungen zu unterstützen“. Übereinstimmend wird festgestellt, dass das Bildungswesen künftig einen wesentlichen Beitrag zum politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erneuerungsprozess in den fünf beitretenden Ländern sowie für den deutschen Einigungsprozess insgesamt leisten muss, und für die allgemeine Bildung werden Empfehlungen zur Neugestaltung des allgemeinbildenden Schulwesens in den sogenannten neuen Ländern verabschiedet. Die Übernahme des in der Verantwortung der Länder stehenden BRD-Schulwesens geht in der Folge einher mit der Entlassung Lehrender, einer nun aus der Übernahme des jeweiligen BRD-Schulsystems resultierend höheren Lehrverpflichtung (Erhöhung der Stundenzahl) und einer Reduzierung des Gehalts. In den Hochschulen und Universitäten wird der überwiegende Teil des Lehrkörpers aus politischen Gründen entlassen und die Stellen mit Personal aus den sogenannten alten Bundesländern besetzt. Außeruniversitäre Forschungseinrichtungen werden in eine sogenannte Warteschleife versetzt und gehen im Gefolge unter. Auch in den Schulen werden sehr viele Pädagogen primär politisch motiviert und unter z.T. schikanösen Begleiterscheinungen aus dem Beruf gedrängt (Berufsverbot). Das Anschlussgebiet erhält die Schul-Dreigliedrigkeit nebst Ungleichwertigkeit des Bildungsangebotes, mit sozialstatuszuweisender Funktion, die es bereits überwunden hatte, zurück. Aus dem Schulwesen der DDR überkommene qualitativ hohe Standards werden zurückgenommen oder auf spätere Lernphasen vertagt, die berufsorientierte intensiv betreute und frühzeitig durch Evaluation begleitete erfolgreiche zügige Studienpraxis wird aufgegeben. Dichte und Systematik verbindlicher Ausbildungsgänge weichen wenig strukturierten Studiengängen. Die Überschreitung der Regelstudienzeit wird zur Regel. Die Zahlung staatlicher Stipendien wird abgeschafft. Die Geldleistungen erfolgen nur noch nach dem nun geltenden Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) mit pauschalen Bedarfsbeträgen, auf die eigenes Einkommen und Vermögen des Schülers oder Studenten sowie Einkommen seines Ehegatten angerechnet werden und das als zinsloses Darlehen zurückgezahlt werden muss. Die das Studium belastende Erwerbstätigkeit wird für Studenten des Anschlussgebietes damit nach dem Ende der DDR auch üblich.

29.06.1990 DDR

Die Volkskammer beschließt das Gesetz über die Aufhebung der Versorgungsordnung des ehemaligen Ministerium für Staatssicherheit/Amt für nationale Sicherheit und begrenzt die Versorgungsansprüche auf 990 DM.

30.06.1990 DDR

Schließung der Freiwilligen Zusatzrenten (FRZ) der DDR. Betroffen sind ca. 3 Millionen Bürger (63 Zusatz- bzw. Sonderversorgungssysteme für die technische, wissenschaftliche, künstlerische, pädagogische und medizinische Intelligenz, für Leiter in wirtschaftlichen und landwirtschaftlichen Einrichtungen, für hauptamtliche Mitarbeiter des Staatsapparates als auch gesellschaftlicher und politischer Organisationen sowie gesonderte Versorgungssysteme für Angehörige der NVA, der Volkspolizei, der Zollverwaltung und für hauptamtliche Beschäftigte des MfS).

01.07.1990 DDR

Der 1. Staatsvertrag tritt in Kraft. Mit der Währungsunion wird die DM in der DDR eingeführt. Damit werden die Renten der DDR im Verhältnis 1:1 auf DM umgestellt. Überführt werden ca. 3,9 Mio. Bestandsrenten. Zugleich wird die Krankenversicherungspflicht auf die vordem in der DDR beitragsfreien Rentner übertragen.

Die Sozialunion umfasst die Beendigung der sozialen Standards der DDR, die Auflösung der einheitlichen Sozialversicherung und Aufgliederung in die traditionellen BRD-Zweige: Renten-, Kranken-, Arbeitslosen- und Unfallversicherung. Das einheitliche Arbeitsgesetzbuch der DDR wird außer Kraft gesetzt, das staatliche Gesundheitswesen der DDR aufgelöst.

Die Wirtschaftsunion basiert auf der Übernahme des kapitalistischen Systems der sozialen Marktwirtschaft. Instrument ist die Treuhandanstalt. Sie handelt auf der Grundlage des Einigungsvertrages, des Gesetzes zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens (Treuhandgesetz) vom 01.07.1990 und des Parteiengesetzes der de Maizière-Regierung. Sie hat die Aufgabe, die volkseigenen Betriebe (VEB) und die volkseigenen Güter (VEG) sowie Wälder und Gewässer zu privatisieren. Die ursprünglich am 01.03.1990 während der DDR-Regierung Modrow entstandene Treuhand ging auf die Gruppe "Demokratie Jetzt" des Runden Tisches zurück, die mit dem „Vorschlag zur umgehenden Bildung einer ‚Treuhandgesellschaft‘ (Holding) zur Wahrung der Anteilsrechte der Bürger mit DDR-Staatsbürgerschaft am Volkseigentum der DDR“ dem Volk sein Eigentum sichern wollte. Etwa zeitgleich legte das Wirtschaftskabinett der Modrow-Regierung ein Konzept vor. Unklar war zunächst, wie das DDR-Produktivvermögen in Höhe von 1,2 bis 1,5 Billionen DDR-Mark den 16 Mio. DDR-Bürgern konkret zu erhalten sei. Die am 01.03.1990 unter der Modrow-Regierung gegründete "Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums" wollte das Volkseigentum wahren und im Interesse der Allgemeinheit verwalten. Die Hauptaufgabe bestand damals in der Entflechtung der Kombinate und der Umwandlung deren Betriebe in Kapitalgesellschaften. Unter der DDR-Regierung de Maizière wurde in Abstimmung mit der Regierung der BRD der Auftrag geändert. Am 17.06.1990 beschließt die Volkskammer daraufhin das "Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens". Ministerpräsident de Maizière macht den immer noch auf Rettung des Volkseigentums orientierenden Abgeordneten klar, dass die Privatisierung des Volkseigentums eine unverhandelbare Bonner Forderung an den Beitrittswünschenden ist. Nach dem Anschluss der DDR und einer kurzen Zeit der Leitung durch Detlev Rohwedder, der "zügig privatisieren, entschlossen sanieren und behutsam abwickeln" will und so mit langem Weiterbestehen der Staatsbetriebe in großem Umfang rechnet, übernimmt Birgit Breuel, eine in Niedersachsen abgewählte CDU-Politikerin, mit der Orientierung: "Privatisierung ist immer noch die beste Sanierung". Das war das Aus für den Hauptteil der Industrie der DDR. Warum wurde der erfahrene Sanierer Rohwedder ermordet? Durch die Treuhand, sie untersteht dem Bundesfinanzministerium, werden 12 354 volkseigene Betriebe, 465 Staatsgüter und 3,3 Millionen Wohnungen sowie Verkehrsbetriebe, Versicherungseigentum und Handelsorganisationen verscherbelt. Im Gefolge kommt es zur Durchherrschung ostdeutscher Wirtschaft durch westdeutsche Eigentümer. Das Volksvermögen von etwa 600 Milliarden DM zerrinnt, westdeutsche Kapitaleigner übernehmen etwa 80 Prozent der ostdeutschen Wirtschaft. Im Gefolge der Vernichtung der Wirtschaftskraft der DDR, insbesondere von 140 der 145 Großbetrieben, sind die ostdeutschen Bundesländer über Jahrzehnte auf Transferzahlungen angewiesen, die ländlichen Regionen sind besonders betroffen. Der Osten wird Abwanderungsregion.

31.08.1990 BRD, DDR

Einigungsvertrag BRD - DDR, beschlossen am 20.09.1990 durch die Abgeordneten der Volkskammer und des Bundestages. Die Fraktionen von PDS und Bündnis 90/Grüne stimmen in der Volkskammer gegen den Vertrag. Auf der Grundlage des Vertrages wird das Rentenrecht nach SGB VI zum 1. Januar 1992 auf die neuen Bundesländer übergeleitet. Ein fester Endtermin der Anpassung der Renten Ost an die Renten West wird gesetzlich nicht festgeschrieben. Strittig bleiben im Gefolge der Verhandlungen zum Einigungsvertrag vor allem: Schwangerschaftsabbruch, Akten des Ministeriums für Staatssicherheit, Länderfinanzen, Eigentumsfragen, Parteivermögen, Stimmenzahl im Bundesrat, Treuhandanstalt, soziale Sicherheit. Die Eingangsformel des Einigungsvertrages beschreibt den "Wunsch der Menschen in beiden Teilen Deutschlands, gemeinsam in Frieden und Freiheit in einem rechtsstaatlich geordneten, demokratischen und sozialen Bundesstaat zu leben ..." und orientiert darauf, einen Beitrag "zum Aufbau einer europäischen Friedensordnung zu leisten, in der Grenzen nicht mehr trennen und die allen europäischen Völkern ein vertrauensvolles Zusammenleben gewährleistet".

Auf der Grundlage des Einigungsvertrages wird mit dem Ende der DDR ein Elitentransfer forciert, der die dauerhafte Besetzung der Führungspositionen in den ostdeutschen Bundesländern mit Westdeutschen zur Folge hat. Bis 1992 besetzen entsprechend den Festlegungen über „Verwaltungshilfe“ in Artikel 15, Abs. 2 des Einigungsvertrages 35 000 Beamte und Politiker die staatlichen und politischen Schlüsselpositionen in den ostdeutschen Ländern. Hinzu kommen deren Netzwerke. Die Verstetigung des dominierenden Einflusses der Westdeutschen wird zum Normalzustand.

03.10.1990 Deutschland

Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes (GG) nach Art. 23 Satz 2. Damit endet die Existenz der DDR und ermöglicht es, dem angeschlossenen Gebiet das völlig andere Werte- und Rechtssystem der BRD zu oktroyieren. Vorausgegangen war ein gemeinsam von den Fraktionen der CDU/DA, DSU, F.D.P. und SPD eingebrachter Beitrittsbeschluss zur Bundesrepublik, der in der Nacht vom 20. zum 21.08.1990 die Zustimmung der Volkskammer erhielt. Die Zusammensetzung der Volkskammer wiederum war das Ergebnis der sogenannten ersten freien Wahl in der DDR, bei der die Apparate der BRD-Parteien am 18. März 1990 mit Personal- und Millionenaufwand den Wahlkampf in der noch bestehenden DDR organisiert hatten. Der Beitritt gemäß Art. 23 bildet die Ermächtigung für die Ausweitung des politischen und rechtlichen Systems der BRD auf das vormalige Gebiet der DDR. Dieser zugrunde liegende Artikel 23 des Grundgesetzes in der Fassung von 1949 wird eine Woche später aus dem Grundgesetz gelöscht. Er lautete bis dahin: "Dieses Grundgesetz gilt zunächst im Gebiet der Länder Baden, Bayern, Bremen, Groß-Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern. In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen." Eine auch mögliche Neukonstituierung des deutschen Staates nach Artikel 146 GG wurde von allen Volkskammerabgeordneten abgelehnt, die eine vormundschaftliche Schwesterpartei in Westdeutschland hatten bzw. sich wie die DSU als neue Partei dafür gründeten. Artikel 146 lautete von 1949 bis 1990: "Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist." Mit dem Anschluss als Beitritt besteht keine Notwendigkeit, eine neue Verfassung auszuarbeiten, die als Entwurf des Runden Tisches in der DDR auch schon vorgelegen hätte, noch weniger ist ein freier Entscheid des deutschen Volkes (Volksentscheid) gewünscht. Artikel 146 wird im Anschluss mit der Einfügung: "... das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte Volk gilt" abgeändert. Mit dem Anschluss der DDR an die BRD durch Beitritt zum Grundgesetz verlieren alle in der DDR geltenden sozialen Rechte ihren Verfassungsrang und sozialpolitische Errungenschaften ihre gesetzliche Grundlage.

Unversehens gelingt über den Prozess des Anschlusses der DDR der mit dem Lambsdorff-Papier 1982 vorgezeichnete allmähliche neoliberale Umbau Deutschlands. Im Gefolge der Auflösung der sozialistischen Staaten ist auch die Staatsidee einer gerechteren, sozialen Gesellschaftsordnung zunächst für lange Zeiten diskreditiert. Der soziale Staat kann so auch im neuen Deutschland immer mehr als die Arbeitsproduktivität und Wirtschaftsentwicklung hindernder Wohlfahrtsstaat in Verruf gebracht werden. Das in der Zeit der System-Konkurrenz von der Bevölkerung in der DDR positiv erlebte und in das Politiksystem der BRD immer wieder ausstrahlende Netz sozialer Errungenschaften endet mit der Löschung zugrunde liegender Sozialgesetze durch Übernahme des BRD-Rechtssystems. Der Anschluss bringt den Liberalkonservatismus in Deutschland in die Offensive. Mit der am 02.12.1990 im Amt bestätigten Koalition aus CDU/CSU und FDP beginnend, nimmt jede folgende Regierung mehr wohlfahrtsstaatliche Politik zurück. Der Paradigmenwechsel orientiert auf den „von Bürokratie befreiten Markt“, der besser als Politik in der Lage sei zu steuern und zu regulieren. Sozialleistungen werden seither prozesshaft reduziert, die öffentliche Verwaltung wird als marktentbehrlich und hemmend herabgesetzt und der „Mensch zum Kostenfaktor".

1991

 

23.04.1991 Deutschland

Enteignungen in der Sowjetischen Besatzungszone auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage zwischen 1945-1949 müssen laut Bundesverfassungsgericht grundsätzlich nicht rückgängig gemacht werden. Betroffen sind Enteignungen im Zuge der Bodenreform, so dass Grund und Boden im Umfang von ca. einem Drittel des ehemaligen DDR-Territoriums Staatsbesitz bleiben, ebenso Industrie- und Gewerbebetriebe, die auf Befehl der SMAD sozialisiert worden waren.

25.06.1991 Deutschland

Gesetz zur Überführung der Ansprüche und Anwartschaften aus Zusatz- oder Sonderversorgungssystemen des Beitrittsgebietes (AAÜG) verkündet. Es regelt die Ausdehnung des SGB VI auf das Gebiet der ehemaligen DDR und damit die Schließung der Zusatz- und Sonderversorgungssysteme der DDR und deren Überführung in die allgemeine gesetzliche Rentenversicherung der BRD. Mit diesem Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz werden die in der DDR für so gut wie alle Berufsgruppen bestehenden Zusatz- und Sonderversorgungssysteme als mit der BRD-Rentensystematik nicht vereinbare Bestandteile geschlossen und gekürzt in die allgemeine Rentenversicherung überführt. Die Sonderversorgungssysteme waren in der DDR, vergleichbar mit der Beamtenversicherung in der BRD, eigenständige Bereiche der Alterssicherung. Die davon erfassten Personen wurden über die Sozialversicherung der DDR betreut. Sie umfassten vier Leistungsbereiche: NVA seit 01.07.1957, Volkspolizei, Feuerwehr und Strafvollzug seit 01.01.1953, Zollverwaltung seit 01.11.1970, MfS seit 01.01.1953. Sonderversorgungszeiten galten in der DDR als Pflichtbeitragszeiten der Rentenversicherung. Das AAÜG regelt nun für Angehörige bestimmter Versorgungssysteme und Berufsgruppen auch die Aberkennung von Teilen ihrer Arbeitsentgelte für die Rentenberechnung, mithin die Nichtberücksichtigung eingezahlter Beiträge, gleichsam als Strafrenten. Die sogenannte Zahlbetragsbegrenzung für leistungsberechtigte hauptamtliche Mitarbeiter des Staatsapparates der DDR, der Parteien in der DDR oder von gesellschaftlichen Organisationen wurde noch durch die de Maizière/CDU-Regierung zum 01.07.1990 herabgesetzt. Diese Begrenzung betraf noch einige Jahre auch Generaldirektoren von Kombinaten und die ihnen gleichgestellten Leiter zentral gelenkter Wirtschaftsorgane sowie die Angehörigen der technischen Intelligenz. Dem Rentenstrafrecht unterliegen gemäß § 6 AAÜG, Jahrzehnte nach dem Anschluss, weiterhin Funktionäre der SED, vom Politbüro bis zum Referatsleiter in einer Kreisleitung, Minister und ihre Stellvertreter wie auch Staatsanwälte der Strafsenate 1A. (Kriegsverbrechen/Verbrechen gegen die Menschlichkeit /Militärstrafsachen, Diversion, Spionage.) Von diesen Berufsgruppen leben 2019 noch etwa 100 000 mit dieser Strafrente. § 7 des AAÜG beschäftigt sich ausschließlich mit dem MfS, der größten Gruppe der Strafrentner. Von der Köchin bis zum Minister unterliegen dort alle Berufsgruppen der Strafrente. 2019 gibt es insgesamt noch mindestens eine halbe Million Bürgerinnen und Bürger im Strafrentensystem der BRD. MfS-Bestandsrentner sind trotz Art. 3 Abs. 1 GG (Gleichheit vor dem Gesetz) auch nach Einführung der sogenannten Vergleichsrente von den Vergünstigungen dieser Art Regelungen, anders als alle übrigen DDR-Berechtigten mit Ansprüchen und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen der DDR, ausgenommen. Die politische Orientierung zum Versagen der Rente für Staats- und SED-Bedienstete der DDR in Höhe ihrer eingezahlten Beiträge wird rechtlich mit der Begründung umgesetzt, dass diese Renten sachwidrige Besserstellungen enthalten hätten, also politische Vergünstigungen gewesen seien. Abgemildert erfolgt die bestrafende rentenwirksame Entgeltbegrenzung für DDR-Versicherte, die zwar im „regimenahen Bereich“, jedoch unterhalb einer leitenden Funktion beschäftigt waren. Die Politiker der BRD-Regierungsparteien, d.h. der Gesetzgeber, verfahren nach dem Prinzip, je höher der Arbeitsverdienst dieses Personenkreises in der DDR war, desto stärker die politische Motivation, umso größer nun die Berechtigung zur rentenwirksamen Kürzung. Der Arbeitsverdienst von Rentnern aus dem Rentensystem des MfS, darunter umfangreich beschäftigt Universitätsabsolventen, dieses gegen die Geheimdienste der USA und der NATO-Staaten, vor allem aber die BRD-Geheimdienste so enorm erfolgreichen Aufklärungs- und Abwehrdienstes der DDR, wurde generell auf 70 v. H. des Durchschnittsentgelts der DDR-Werktätigen gekürzt. Zudem schlossen die herrschenden Politiker der BRD (der Gesetzgeber) eine Höherwertung nach den Regelungen zur Rente nach Mindesteinkommen (§ 262 SGB VI) für alle im MfS-Tätigen grundsätzlich aus. Als Grund für diese besondere Regelung wurden Gesichtspunkte des „sozialen Rechtsempfindens“ angeführt. Norbert Blüm (CDU), Arbeits- und Sozialminister, gab am 26.04.1991 in seiner Bundestagsrede als Grund für diese besondere Regelung an: „Ich frage Sie: Besteht nicht auch aus dem Gefühl und dem Bewußtsein der sozialen Gerechtigkeit heraus das Bedürfnis, Stasi-Renten zu kürzen? Gäbe es keine Kürzungen, würden die Gequälten möglicherweise niedrigere Renten erhalten als die Quäler. Das kann doch nicht Sinn der Gerechtigkeit sein!“

Bis zum Jahr 1933 war die Wertneutralität des Rentenrechts erhalten geblieben.

Zur politischen Verfolgung, die bei Kommunisten, Sozialdemokraten, bürgerlichen Demokraten, Pazifisten, Juden, Bibelforschern zu langjährigen Haftstrafen wie auch KZ-Haft führten, gehörten ab 1933 auch Berufsverbote, polizeiliche Zwangsmaßnahmen und die Verweigerung oder Kürzung der Renten bzw. der Ruhegelder. Das war ursprünglich Bestandteil der Politik des faschistischen Regimes.

25.07.1991 Deutschland

Gesetz zur Herstellung der Rechtseinheit in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung (Rentenüberleitungsgesetz - RÜG). Zum 01.01.1992 wird das gesamte Rentenrecht nach SGB IV auf das Anschlussgebiet übertragen. Für einige Jahre können auch ostdeutsche, langjährig versicherte Männer damit bereits mit 63 Jahren in Rente gehen (DDR vordem: mit 65 Jahren Männer, Frauen mit 63 Jahren). Mit günstigeren Anspruchsvoraussetzungen werden die einheitlichen Invalidenrenten von Berufsunfähigkeits- und Erwerbsunfähigkeitsrenten abgelöst. Mit dem SGB VI nicht vereinbare Teile des Rentenrechts der DDR (Sonderversorgungssysteme der Berufsgruppen und Freiwillige Zusatzrentenversicherung) werden ausgegliedert. Der gesamte Rentenbestand wird zum 31.12.1991 neu berechnet und die Differenz zwischen der anpassungsfähigen Rente und dem per 31.12.1991 tatsächlich ausgezahlten Rentenbetrag als konstanter "Auffüllbetrag" bis 1995 weiter gezahlt. Mit den Rentenanpassungen ab 1996 wird der Auffüllbetrag in Stufen zum Erlöschen gebracht. Mit der Überführung der gesetzlichen Rentenversicherung der DDR bewies das umlagefinanzierte Pflichtsystem der BRD Flexibilität und Leistungsfähigeit, die das vormalige Kapitaldeckungsverfahren kaum zu erreichen im Stande gewesen wäre.

01.10.1991 Deutschland

Mieten, Heiz- und sonstige Betriebskosten in den neuen Bundesländern steigen. Zum Auffangen sozialer Härten wird ein Sonderwohngeld Ost eingeführt.

1992

 

01.01.1992 Deutschland

Einheitliche Rentenversicherung und Rentenreform treten in Kraft. Rentenanpassung richtet sich künftig nicht mehr nach der Brutto-, sondern nach der Nettolohnentwicklung. Die einzelne Rente wird jedoch nach dem jeweils versicherten Bruttolohn berechnet. Flexible Altersgrenze wird stufenweise auf die Regelaltersgrenze von 65 Jahren angehoben.

30.09.1992 Deutschland

Pflegeversicherung wird aufgebaut. "5. Säule" neben Renten-, Arbeitslosen-, Unfall- und Krankenversicherung. Beschluss der Koalition. FDP hatte private Pflegeversicherung gefordert.

 

1993

 

01.01.1993 Deutschland

Gesundheitsstrukturgesetz tritt größtenteils in Kraft. Das Gesetz soll eine Kostenlawine im Gesundheitswesen aufhalten. Ausgaben für Leistungsanbieter werden budgetiert. Honorare werden teils gesenkt. Kosten für Arznei- und Heilmittel werden ebenfalls budgetiert. Für Krankenhäuser gilt nicht mehr das Selbstkostendeckungsprinzip, stattdessen marktwirtschaftliche Anreize (leistungsorientierte Festpreise) und Bedarfsplanungen. Zulassung neuer Kassenärzte in "überversorgten" Regionen wird eingeschränkt. Für Versicherte erhöhte Zuzahlungen für Krankenhaus, Kuren, teure Medikamente, Brillen, Krankentransport, verschiedene Behandlungen, Untersuchungen und aufwendigeren Zahnersatz. Härtefallregelungen sollen Belastungen sozial abfedern.

28.09.1993 Deutschland

Erster Altenbericht der Bundesregierung. Altenpolitik als neues eigenständiges Politikfeld. Hintergrund: Demografische Entwicklung und Bewusstseinswandel in der älter werdenden Gesellschaft.

15.10.1993 Deutschland

Ab sofort gleiche gesetzliche Kündigungsfristen für Angestellte und Arbeiter in den alten und neuen Ländern. Grundkündigungsfrist einheitlich vier Wochen. Damit Verdoppelung für Arbeiter, für Angestellte zwei Wochen Verkürzung (bisher sechs Wochen zum Quartalsende). Verlängerte Frist für Kündigung durch den Arbeitgeber gestaffelt je nach Dauer der Betriebszugehörigkeit.

 

1994

 

08.03.1994 Deutschland

Unter der Losung "Uns reicht’s" wird in Deutschland ein Frauenstreik organisiert. 1994 legen circa eine Million Frauen ihre bezahlte und unbezahlte Arbeit am 8. März nieder, verweigern ihre Tätigkeit in Produktion und Reproduktion, im Haushalt, im Ehrenamt, in der Fabrik und im Büro. Der Protest richtet sich "gegen den Abbau von Grundrechten, gegen den Abbau von Sozialleistungen und die wachsende Armut von Frauen, gegen die Zurückdrängung bereits erreichter Frauenrechte, gegen die Zerstörung der Umwelt und gegen die Vorbereitung deutscher Kriegsbeteiligung". Der Unabhängige Frauenverband (UFV) ruft zu diesem "FrauenStreikTag" auf. Hintergrund ist die dramatisch hohe Frauenarbeitslosigkeit und der Abbau von Kinderbetreuung im Gefolge des Anschlusses und bringt so den Internationalen Frauentag wieder zur Geltung. Der UFV war 1989 als autonomer Zusammenschluss in der DDR gegründet worden, hatte am Runden Tisch mitgearbeitet und organisiert nun mit Gewerkschaften und Grünen Protestaktionen in Deutschland.

10.03.1994 Deutschland

Am 10. März 1994 wird die Kriminalisierung homosexueller Bürgerinnen und Bürger beendet, der Straftatbestand durch Bundestagsbeschluss aus dem Strafgesetzbuch der BRD und rückwirkend gestrichen. Ursächlich dafür ist vor allem die Rechtssituation nach dem Anschluss der DDR. Für Bürgerinnen und Bürger des vormaligen Gebietes der DDR war für die Übertragung bundesdeutschen Rechts laut Einigungsvertrag der § 175 StGB für das Anschlussgebiet ausgenommen. 1988 war in der DDR der ab 1968 verbliebene, hier geltende § 151 StGB ersatzlos gestrichen worden. Die Verfolgung Homosexueller in Deutschland geht bis 1872 zurück. Das neu gegründete Deutsche Reich stellte mit dem § 175 die "widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen und Tieren begangen wird," unter Strafe. Die Nazis verschärften den Paragraphen. Nach der Befreiung vom Faschismus 1945 wurde die faschistische Fassung des § 175 in der BRD bis 1969 übernommen und damit die Verfolgung homo- und bisexueller Männer in Kontinuität fortgeführt. Das Bundesverfassungsgericht hatte am 10.05.1957 entschieden, dass gleichgeschlechtliche Betätigung eindeutig gegen das Sittengesetz verstoße, weswegen sich homosexuelle Bürger nicht auf das im Grundgesetz garantierte Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung berufen können. Für das Sittengesetz sei von Bedeutung, dass die Kirchen gleichgeschlechtliche Unzucht als unsittlich verurteilen. In der Sowjetischen Besatzungszone gab es zwischen 1945 und 1949 keine einheitliche Gesetzgebung. Ab 1950 galt die alte Fassung aus der Kaiserzeit. Die solcher Gestalt von 1949 bis 1968 geltenden § 175 nebst 175a (schwerer Fall) setzte die Justiz der DDR schon 1957 aus. Grundlage dafür war die mit dem Strafrechtsänderungsgesetz in der DDR gegebene Möglichkeit, von Strafverfolgung abzusehen. Seit 1957 wurden so homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen nicht mehr bestraft. Im neuen, ab 1968 mit der Strafrechtsreform in der DDR geltenden Strafgesetzbuch war einvernehmlicher Sex zwischen Erwachsenen Männern entkriminalisiert und in Anlehnung an den Jugendschutz § 151 eingeführt, der unter Strafe stellte, wenn ein Erwachsener mit einem Jugendlichen (unter 18 Jahren) gleichen Geschlechts sexuelle Handlungen vornimmt. Das Gesetz galt bis zu seiner Abschaffung 1987. In Westdeutschland wurde der § 175 erst 1994 aufgehoben und dann gestrichen. Im Unterschied zur DDR wurde in der BRD nach § 175 StGB bis in die 1990er Jahre verurteilt und inhaftiert. Die größten Verfolgungswellen gab es in den 1950er und 1960er Jahren. Mit dem Rehabilitierungs- und Entschädigungsgesetz 2017 wurden alle Beschuldigten rehabilitiert. Inhaftierte Männer können eine Haftentschädigung erhalten, wenn sie einen entsprechenden Antrag stellen und soziale Einbußen sowie strafrechtliche Verfolgung nachweisen, wobei einschlägige Berufsverbote/Entlassungen bisher nicht als entschädigungswürdig anerkannt sind (2019). Eine von der Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren vorgeschlagene Opferrente wurde aus politischen Gründen abgelehnt. Weder in der DDR, noch weniger in der BRD, wurde die historisch überkommene, vorurteilsbeladene gesellschaftliche Diskriminierung Betroffener beseitigt. Seit 2001 besteht nun in Deutschland die Möglichkeit einer eingetragenen Lebensgemeinschaft, die zunächst zwar nicht auf Einkommenssteuer und Familienrecht, aber bei der Erbschaftssteuer heterosexuellen Ehen gleichgestellt ist.

o   Wolfgang Schmidt in „junge Welt“ vom 21.10.2019 zum Umgang mit homosexuellen Bürgern in der DDR.

01.06.1994 Deutschland

Verfassungswidrige ungleiche Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall wird ab sofort bundeseinheitlich beseitigt. Nicht nur Angestellte, sondern auch Arbeiter, Heimarbeiter und geringfügig Beschäftigte haben Anspruch auf Entgeltfortzahlung für bis zu sechs Wochen.

01.08.1994 Deutschland

Private Arbeitsvermittlung ist ab sofort ohne regionale Beschränkung zugelassen (Beschäftigungsförderungsgesetz vom 26.07.1994). Die Möglichkeit, befristete Arbeitsverträge abzuschließen, wird verlängert. Zuschüsse für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen werden auf 80 Prozent angeforderter Entgelte begrenzt.

10.11.1994 Deutschland

Der weltberühmte Schriftsteller Stefan Heym eröffnet als Alterspräsident den 13. Deutschen Bundestag. Bundeskanzler Helmut Kohl hatte für die Unionspolitiker während dessen Rede "steinerne Mienen" angeordnet. Als der Alterspräsident auf dem Podium erscheint, erheben sich alle Abgeordneten, den Gepflogenheiten entsprechend, von ihren Sitzen, außer denen der CDU und CSU. Der 81jährige Heym, als Jude von den Nazis ins Exil getrieben, als Offizier der USA nach Ostdeutschland zurückgekehrt und in der DDR-Hauptstadt lebend, erinnert in seiner Rede: "Gibt es nicht auch Erfahrungen aus dem Leben der früheren DDR, die für die gemeinsame Zukunft Deutschlands zu übernehmen sich ebenfalls lohnte? Der gesicherte Arbeitsplatz vielleicht, die gesicherte berufliche Laufbahn, das gesicherte Dach überm Kopf. Nicht umsonst protestieren ja zahllose Bürger und Bürgerinnen der Ex-DDR dagegen, daß die Errungenschaften und Leistungen ihres Lebens zu gering bewertet und kaum anerkannt oder gar allgemein genutzt werden. Unterschätzen Sie doch bitte nicht ein Menschenleben, in dem trotz aller Beschränkungen das Geld nicht das all entscheidende war. Der Arbeitsplatz ein Anrecht von Mann und Frau gleichermaßen. Die Wohnung bezahlbar und das wichtigste Körperteil nicht der Ellenbogen." Die Unionsfraktion, einschließlich Bundesministerin Merkel, verweigert als einzige Fraktion Heym entsprechend der Regieanweisungen ihres Fraktionschefs Wolfgang Schäuble den Applaus. Die Erinnerung Heyms an gesicherte Arbeitsplätze in der DDR, wie auch die Mahnung, nicht bei jeder Investition solle zuerst der Profit eine Rolle spielen, werden vor allem bei CDU/CSU und Bündnis 90/Grüne leicht belustigt aufgenommen.

1995 – 2000

 

01.01.1995 Deutschland

Die Pflegepflichtversicherung in der gesetzlichen und privaten Krankenversicherung tritt in Kraft. Der Beitrag beträgt 1 Prozent des beitragspflichtigen Einkommens, höchstens bis zur (gestiegenen) Beitragsbemessungsgrenze (DM 5850 West, DM 4800 Ost), ab 01.07.1996 1,7 Prozent. Finanzierung je zur Hälfte durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber bzw. Rentenanstalten. Unterhaltsberechtigte Familienangehörige sind beitragsfrei mitversichert. Kompensation für die Arbeitgeber: Ihr Anteil wird durch Streichung eines Feiertags in jedem Bundesland ausgeglichen; alle Länder streichen den Buß- und Bettag.

Agrarsozialreform sichert bundeseinheitlich die Landwirte im Alter und bei Krankheit ab. Bäuerinnen erhalten eigenständigen Anspruch auf Rente im Alter oder bei Erwerbsunfähigkeit. Bäuerinnen und Bauern, wie später LPG-Mitglieder, waren in der DDR von Anbeginn versichert.

01.10.1996 Deutschland

Das Arbeitsrechtliche Gesetz zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung, erlassen am 25.09.1996, tritt in Kraft. Geändert wird das Kündigungsschutzgesetz, die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall wird begrenzt und der Abschluss befristeter Arbeitsverträge erleichtert. Mitarbeiter in Betrieben mit zehn oder weniger Arbeiterinnen und Arbeiter haben keinen allgemeinen Kündigungsschutz mehr.

10.10.1997 Deutschland

Mit den Worten „Die Rente ist sicher“ bleibt der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert Blüm, CDU, in Erinnerung, der am 10.10.1997 in hitziger Debatte des Bundestages für eine Rentenreform eintritt, mit der der Weg zur Altersarmut großer Teile der Bevölkerung wieder beginnt. Mit den Stimmen der CDU/CSU und FDP wird das "Wachstums- und Beschäftigungsfördergesetz" verabschiedet. Ein demografischer Faktor in der Rentenformel, die Absenkung des Rentenniveaus von inzwischen 70 auf 64 %, die Anhebung der Altersgrenze für die Altersrente wegen Arbeitslosigkeit von 63 auf 65 Jahre, für Frauen ab dem Jahr 2000 von 60 auf 65 Jahre und die Verkürzung verschiedener Anrechnungszeiten bzw. deren Minderungen zeichnen zunächst den Weg. In der DDR bleibt es bis zum Anschluss bei der statischen Konzeption der Rente.

01.01.1998 Deutschland

Mit dem Gesetz zur Reform der Arbeitsförderung vom 24.03.1997 - Arbeitsförderungs-Reformgesetz (AFRG) wird das Arbeitsförderungsrecht als Drittes Buch in das Sozialgesetzbuch eingeordnet (SGB III). Mit seinem Inkrafttreten wird das bis dahin geltende Arbeitsfördergesetz AFG außer Kraft gesetzt und eine Richtungsentscheidung zu Gunsten einer noch stärkeren Marktorientierung getroffen. Die Einbindung in das SGB stärkt den Versicherungsgedanken und drängt tendenziell stärker in die Selbstverantwortung. Mit dem Ziel des AFRG, den Ausgleich am Arbeitsmarkt nur noch zu unterstützen, beginnt sich der Staat in diesem Sektor aus seinem Sozialauftrag (soziale Marktwirtschaft) zurückzunehmen. Mit dem AFRG werden die Sanktionsmöglichkeiten gegenüber Arbeitslosen erheblich ausgebaut und Leistungen gekürzt. Arbeitslosigkeit wird in Richtung reiner Versicherungsleistung definiert und so individualisiert. Die Spielräume für aktive Arbeitsmarktpolitik werden mit diesem Spargesetz - die Bundeszuschüsse werden heruntergefahren - enger. Über die Hälfte der Einsparungen sollen in den ostdeutschen Bundesländern erbracht werden. Ein Einbruch arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen ist absehbar. (1996 waren im Osten von 100 Arbeitslosen 43 in aktiven Maßnahmen, im Westen 13). Das Gesetz fokussiert auf den sogenannten ersten Arbeitsmarkt und die Vermittlung dorthin. Neu im Gesetz sind Sperrzeit bewehrte Trainingsmaßnahmen zur Verbesserung der Eingliederungsaussichten (2-8 Wochen), die Arbeitsbereitschaft und -fähigkeit überprüfen sollen. Langzeitarbeitslose werden verstärkt auf Sozialhilfe abgeschoben. ABM erhalten erhöhte Praktikums- sowie Qualifizierungsanteile; Weiterbildung wird modularisiert. Erleichterungen ergeben sich für Arbeitgeber (Eingliederungszuschüsse auch bei befristeten Arbeitsverträgen und Dauer sowie Höhe der Anteile der BA). Die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) begrüßt das Gesetz, nicht aber die Minderung der Bundeszuschüsse, die Beitragssenkungen verhindere. In den vorausgegangenen Jahren waren kampagnenhaft Politiker und Publizisten an die Öffentlichkeit getreten, die Arbeitslosigkeit als Faulheit skandalisierten. Journalisten suggerierten zunehmend, dass ein schlechtes Gefühl haben solle, wer, völlig legal zwar, aber sein Recht auf Sozialleistungen wahrnehme. So empörte sich am 23.10.1995 der Focus unter dem Titel: "Das süße Leben der sozial Schmarotzer": "Aufrichtige haben das Nachsehen: Der Wohlfahrtsstaat lädt zum Mißbrauch ein. Immer mehr Bundesbürger bedienen sich reichlich." Der Spiegel fragte am 13.05.1996 in seinem Artikel "Pleite im Paradies": "Doch wieviel Kollektiv will sich die Republik der Individualisten noch leisten? Gilt heute noch das einstige Zauberwort von der Solidarität? Ist der Wohlfahrtsstaat noch immer Schmuckstück oder nur noch Kostenfaktor? Und: Welcher Spielraum ist der nationalen Politik überhaupt noch geblieben, über ihr Gesellschaftsmodell selbst zu entscheiden?“ „Die deutsche Einheit hat alle Probleme noch verschärft: Den Sozialversicherungen traten Millionen Menschen bei, die in ihrem Leben nie einen Beitrag gezahlt hatten. Um die Wahlchancen nicht durch Steuererhöhungen zu schmälern, hat die Kohl-Regierung die gewaltigen Transferlasten für das ‚Beitrittsgebiet‘ zu einem großen Teil den Sozialkassen aufgebürdet. Der Trick gelang, Kohl gewann die Wahl. Doch die Risse im Fundament des Sozialstaats, kein Wunder, wurden größer." Der Sozialstaatsbegriff vom "sozialen Netz" wird mit dessen Umbau zum "Standort" transformiert in "soziale Hängematte", in der sich faule Nutznießer befänden, z.B. Erwerbslose und Sozialhilfebezieher.

09.12.1998 Deutschland

Beschluss des Bundessozialgerichts in Kassel, nach dem lettischen SS-Veteranen eine Rente der Bundesrepublik Deutschland zuzubilligen ist, wenn nicht nachgewiesen ist, dass sie gegen "die Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit verstoßen" haben. Die Kasseler Richter gehen davon aus, dass, wer als Angehöriger der Waffen-SS im Kriegseinsatz verletzt worden ist, auch nach dem Bundesversorgungsgesetz eine Entschädigung erhalten müsse, wie jeder Soldat der Wehrmacht auch. Verwiesen wird darauf, dass der Gesetzgeber seit Anfang 1998 sogar ausdrücklich die Angehörigen der Waffen-SS in den Kreis der Versorgungsempfänger einbezogen hat. Das gelte gerade auch für Letten, die sich damals freiwillig zur Waffen-SS gemeldet hatten. Die SS-Männer hatten nie in die Rentenkasse eingezahlt. Am 08.10.1997 bringen die CDU/CSU und FDP nach mehreren, die Öffentlichkeit mobilisierenden Veröffentlichungen einen Gesetzentwurf ein, wonach die Kriegsopferrente für Kriegsverbrecher gestrichen wird. Am 21.01.1998 wird das Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz) dazu mit einem neuen § 1a ergänzt. Nur: Eine Verwicklung in Kriegsverbrechen hat die Rentenkasse nicht zu prüfen. (Der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg hatte im Jahre 1946 die Schutzstaffel (SS)mit allen Untergliederungen, ausgenommen die Reiter-SS, zur verbrecherischen Organisation erklärt. Die Hitler unterstellte Formation sei durch ihre personelle und organisatorische Verflechtung mit der Gestapo, durch die KZ-Verwaltung, die Massenexekutionen der Einsatztruppen und die systematische Juden-Ermordung der Hauptträger von Terror und Vernichtungspolitik im faschistischen Herrschaftssystem gewesen. Mehr als 65 000 Juden wurden in Lettland ermordet, Juden aus allen Teilen Europas, insbesondere auch aus Deutschland.)

02.11.2000 Deutschland

Das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung“ vom 02.11.2000 hat nunmehr dem elterlichen Züchtigungsrecht in der BRD endgültig den Boden entzogen. § 1631 Abs. 2 hat jetzt folgende Fassung: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig." In der BRD durften der Vater, der Lehrer und der Lehrherr prügeln. In der DDR war die Prügelstrafe seit 1949 abgeschafft und vordem seit 1945 durch die Sowjetische Militäradministration verboten. Durch einzelne Verordnungen wird daran erinnert, so in § 21 Abs. 4 der Heimordnung der DDR vom 1. Dezember 1969, der ein ausdrückliches Verbot der körperlichen Züchtigung anweist. Verwirklicht wurde damit eine Forderung der Arbeiterbewegung, insbesondere aus der Zeit der Weimarer Republik, und der Schülerräte während der Novemberrevolution 1918. In Deutschland durfte der Vater gemäß BGB § 1631, und nur er war erziehungsberechtigt, angemessene Zuchtmittel gegen das Kind anwenden. Dies gilt in der BRD bis 1958. Zeitgleich mit dem Gleichberechtigungsgesetz vom 01.07.1958 wird im BGB das Züchtigungsrecht des Vaters gestrichen. Bis 1973 wird in den Bundesländern durch Schulgesetze das Recht auf körperliche Züchtigung in pädagogischen Einrichtungen verboten. Im Freistaat Bayern wird die Prügelstrafe in Schulen vom Landtag allerdings erst ab dem 01.01.1983 abgeschafft. Das Recht des Lehrherrn zur "väterlichen Zucht" der Lehrlinge war bereits 1951 aufgehoben worden. Bis dahin hatte §127a der Gewerbeordnung dem Lehrherrn dies ausdrücklich zugestanden.

2001 – 2019

 

31.10.2001 Deutschland

In "Die Zeit" erscheint der Artikel "Dieser Sozialstaat ist unsozial. Nur mehr Freiheit schafft mehr Gerechtigkeit. Zur Verteidigung der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" von Hans Tietmeyer. Tietmeyer, als Staatssekretär 1982 im Finanzministerium Mitautor des Lambsdorff-Papiers, Unterhändler und Berater Kanzler Kohls bei den Verhandlungen zum Anschluss der DDR, dann Bundesbankpräsident, ist nun Leiter des Kuratoriums "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" (INSM), einer von Arbeitgebern der Metall- und Elektroindustrie geschaffenen und mit 100 Mio. Euro ausgestatteten Lobbyorganisation. Die INSM propagiert sich als "überparteiliche Reformbewegung von Bürgern, Unternehmen und Verbänden für mehr Wettbewerb und Arbeitsplätze in Deutschland" und versteht es, die strategische Umsetzung der neoliberalen Wende des Kapitalismus im gesellschaftlichen Bewusstsein durch mediale Kampagnen zu forcieren, durch politische Stellungnahmen und Botschaften renommierter Persönlichkeiten, so auch durch INSM-finanzierte großformatige Zeitungsanzeigen wie am 25.11.2001 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und wissenschaftliche Erkenntnisse ausgerichteter Institutionen. "Es ist nicht sozial, sondern ungerecht, wenn leistungswilligen Sozialhilfeempfängern durch starre Regeln die Chance genommen wird, auf eigenen Beinen zu stehen. Es ist ebenso unsozial, die Menschen durch Dauersubventionen abhängig zu machen, statt ihre Eigeninitiative und Eigenvorsorge zu stärken. Es gefährdet schließlich den Wohlstand und die soziale Sicherheit aller, wenn der Standort Deutschland wegen mangelnder Flexibilität seine Wettbewerbsfähigkeit verliert", gibt Tietmeyer in der Zeit vor. Die Orientierung geht durch die Presse. Journalist/-innen skandalisieren manipulativ "Sozialkriminalität" - der Sozialstaat wird nicht mehr als Kulturleistung gewürdigt, sondern als Problemfall offeriert.

16.08.2002 Deutschland

Übergabe des Abschlussberichts der Hartz-Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ ("Hartz-IV") im Berliner Französischen Dom. Der Bericht bildet die Grundlage für die weitgehende Deregulierung des Arbeitsmarktes in Deutschland durch die Schaffung eines Grundsicherungssystems, in das Millionen Menschen samt Partnern und Kindern ohne Rücksicht auf Qualifikation oder Berufserfahrung hineingepresst werden und das Hunderttausende in unterwertige Arbeitsplätze zwingt, ohne ihnen sozialen Schutz zu bieten. Mit den Modulen 6 („Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenführen“) und 3 („Neue Zumutbarkeit und Freiwilligkeit“) sind die Grundlagen für Hartz IV gegeben. Die Erarbeitung erfolgte weniger durch die Hartz-Kommission, sondern gemeinsam mit der Bertelsmann Stiftung in dem nichtöffentlichen ministeriellen Arbeitskreis "Reform der Arbeitslosen- und Sozialhilfe", der dann an zentraler Stelle an der Politikformulierung beteiligt wurde. Die Finanzierung übernahm die Bertelsmann Stiftung. Vertreter politischer Parteien und Bundestagsabgeordnete waren im Arbeitskreis nicht vertreten. Der Arbeitskreis wurde verzahnt mit einem weiteren Bertelsmann-Projekt, "Beschäftigungsförderung in Kommunen". Im Ergebnis war die Zusammenlegung der beiden Systeme Arbeitslosen- und Sozialhilfe als die künftige Lösung der Arbeitsmarktpolitik gegen den Widerstand der DGB-Vertreter durchgesetzt. Diese Überlegung wurde nicht öffentlich gemacht, und die Gruppe trat in der Folge nicht als ministerielle Arbeitsgruppe, sondern als "Kommission von unabhängigen Sachverständigen" eines Bertelsmann-Projektes erst während der Arbeit der Hartz-Kommission mit dieser Empfehlung an die Öffentlichkeit. Im März 2002 vertraten dann Florian Gerster, Vorstandsvorsitzender der Bundesagentur für Arbeit, zusammen mit Wolfgang Clement, Minister für Wirtschaft und Arbeit, die Forderung nach Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe auf Sozialhilfeniveau und Einschnitten bei der Arbeitslosenversicherung in der Öffentlichkeit. Der Plan wurde zunächst wieder dementiert und die Hartz-Kommission einberufen, die genau zu diesem Ergebnis kommen sollte. Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe wurde zum Weg, die Arbeitslosenhilfe abzuschaffen, einen erheblichen Leistungsabbau in der Arbeitslosenversicherung zu ermöglichen und ein neues System einer rechtloseren Sozialhilfe zu etablieren, die nicht mehr dem Ziel der Schaffung menschenwürdiger Lebens- und Arbeitsverhältnisse verpflichtet ist.

14.03.2003 Deutschland

Verkündigung der Agenda 2010 in der Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder. Entworfen hatte die Agenda 2010 ein kleiner Zirkel von Schröder-Vertrauten im Kanzleramt. Das Konzept wurde maßgeblich von der Bertelsmann Stiftung geprägt. Die Bertelsmann Stiftung bleibt im Hintergrund, ihre Experten hatten jedoch wesentlichen Anteil daran, dass sich neoliberales Gedankengut um die Jahrtausendwende auf den höchsten Regierungs- und Verwaltungsebenen durchsetzt. Der "Wirtschaftspolitische Forderungskatalog für die ersten hundert Tage der Regierung" dieser Stiftung, veröffentlicht im Wirtschaftsmagazin „Capital“ (Eigentum von Gruner und Jahr, dessen Eigentümer wiederum die Bertelsmann Stiftung), wird von Schröder zu weiten Teilen übernommen. Bereits am 29. Oktober 2002 hatte er in seiner Regierungserklärung für Leistungskürzungen plädiert: "Zu Reform und Erneuerung gehört auch, manche Ansprüche, Regelungen und Zuwendungen des deutschen Wohlfahrtsstaates zur Disposition zu stellen. Manches, was auf die Anfänge des Sozialstaates in der Bismarck-Zeit zurückgeht und noch vor 30, 40 oder 50 Jahren berechtigt gewesen sein mag, hat heute seine Dringlichkeit und damit auch seine Begründung verloren." Die Schröders Wiederwahl, im Gegensatz zu den Kapitalverbänden, unterstützenden Gewerkschaften hatten auf Wiedereinführung der Vermögens- sowie eine Erhöhung der Erbschaftssteuer, die Abschaffung des steuerlichen Ehegattensplittings zur Verbesserung der Kinderförderung sowie eine drastische Anhebung der Beitragsbemessungs- und Versicherungspflichtgrenze in der Krankenversicherung orientiert. In seiner Agenda-Rede macht der SPD-Kanzler deutlich: "Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen. Alle Kräfte der Gesellschaft werden ihren Beitrag leisten müssen: Unternehmer und Arbeitnehmer, freiberuflich Tätige und auch Rentner." Im Gefolge erleben die Rentner ab 2004 unter Berücksichtigung der Preissteigerungen mehrere Minusrentenrunden, während ihre Sozialversicherungsbeiträge steigen. Ein weiterer Kürzungsfaktor wird in die Rentenanpassungsformel eingebaut, womit das Rentenniveau bis 2030 um 20-25 % gesenkt werden kann. Keine finanziellen Einbußen haben Unternehmer und Freiberufler, Entlastung erfahren Kapitaleigentümer und Spitzenverdiener. Als Strukturänderungen ("-reformen") sind vorgesehen: Lockerung des Kündigungsschutzes in Kleinbetrieben (Ankündigung, befristet Beschäftigte sowie Leih- bzw. Zeitarbeiter/-innen nicht mehr auf die geltenden Obergrenzen anzurechnen), eine Umgestaltung der Regeln für die Sozialauswahl, eine Vereinfachung des Steuerrechts für Kleinbetriebe, die Verringerung der Höchstbezugszeit des Arbeitslosengeldes auf 12 und für alle über 55 auf 18 Monate, eine "Nachjustierung" bei der Rentenversicherung, eine Revision des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenkassen und eine private Versicherung für das Krankengeld. In seiner Agenda-Rede kündigt Schröder an, Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zusammenzulegen mit der Begründung, die Chancen derjenigen zu erhöhen, die nicht nur arbeiten könnten, sondern auch wirklich wollten: "Das ist der Grund, warum wir die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenlegen werden, und zwar einheitlich auf einer Höhe – auch das gilt es auszusprechen –, die in der Regel dem Niveau der Sozialhilfe entsprechen wird." Damit wird durch den Bundeskanzler den Erwerbslosen die Schuld an ihrem Schicksal zugeschrieben und die Notwendigkeit der Absenkung der Arbeitslosenunterstützung auf das sozialkulturelle Existenzminimum als Mittel zur Annahme jeder Arbeit definiert. Seine knappe Wahl hatte er vordem dem SPD-Versprechen zu verdanken, die Arbeitslosenunterstützung nicht auf die Höhe der Fürsorgeleistung herabzudrücken, womit er sich zur Verantwortung gegenüber den Schwächeren der Gesellschaft bekannte. Mit der Agenda 2010 wird der Weg für noch marktradikalere Lösungen geebnet.

12.05.2003 Deutschland

Unterzeichnung der Verwaltungsvereinbarung zum Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" zur Förderung von Ganztagsschulen durch Bund und Länder . Die BRD gehört in der Europäischen Union zu den wenigen Ländern, die noch am Halbtagsschulmodell festhalten. In Anknüpfung an die bildungspolitische Tradition der Weimarer Republik hatte sich in der BRD ein fünfstufiges Bildungssystem entwickelt, das im Übrigen durch Ländergesetzgebung unterschiedlich gestaltet und unsystematisch disloziert ist. Auf dem Territorium der DDR gab es seit den 1970er Jahren ein dichtes Netz koordinierter Bildungseinrichtungen - unentgeltlich, stabil und mit enormem staatlichem Aufwand finanziert. Bildung gehörte zu den Kernaufgaben dieses Sozialstaates. Unterricht fiel kaum aus, regelmäßig waren alle Planstellen besetzt, Schulschwänzen wurde nicht toleriert. Ihrem Charakter nach Ganztagsschule, in der DDR etappenweise eingeführt über die Jahre von 1959 -1965, mit verpflichtendem Vormittags- und, nach der Schülerspeisung, in erforderlichem Umfang auch Nachmittagsunterricht, am Nachmittag jedoch vor allem fakultativem Unterricht, in Schulhorten nicht verpflichtende Hausaufgabenbetreuung, Freizeitbetreuung, thematisch breit gefächerten Arbeitsgemeinschaften und Kursveranstaltungen, Neigungs- und Hobbykursen, zunehmend in Zusammenarbeit mit außerschulischen Einrichtungen, so den örtlichen Pionierhäusern, vor allem für die jüngeren Schüler. 1989 betrug der Betreuungsschlüssel in DDR-Kitas 98 % (sie unterstanden systematisch dem Ministerium für Gesundheitswesen). 94 % der Drei- bis Sechsjährigen besuchten einen Ganztagskindergarten, und 81 % der Grundschulkinder gingen nach der Halbtagsschule in einen Hort. Die Erwerbsquote der 15- bis 64-jährigen Frauen betrug in der DDR zu dieser Zeit 78 % (Schweden 84 %, Dänemark 76 %, Großbritannien 63 %, BRD 53 %). In der BRD wurde die Empfehlung des Deutschen Bildungsrates, den Anteil von Ganztagsschulen auf bis zu 30 % zu erhöhen, von den Bundesländern nicht umgesetzt, obwohl die Nachfrage seitens der Eltern vorhanden war. Mangelnder politischer Wille und das Leitbild "Ernährer - Hausfrau/Zuverdienerin - Familie" standen dem entgegen. Mit dem Ganztagsschulprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" von 2003 bis 2009 unterstützt nun die Bundesregierung den Auf- und Ausbau von Ganztagsschulen mit 4 Milliarden Euro; über den Fördermitteleinsatz entscheiden die Länder. Ganztagsschulen sollen die Chancengerechtigkeit durch Verbesserung der Rahmenbedingungen für unterrichtliches und außerunterrichtliches Lernen steigern, zu einer neuen Lernkultur führen und der Unterstützung von Familien dienen, da immer mehr Eltern Familie und Beruf zu vereinbaren wünschen - Zielstellungen, die in der DDR bereits verwirklicht waren, bevor auf ihrem vormaligen Territorium das rückständige BRD-Schulsystem Einzug hielt.

01.01.2004 Deutschland

Von allen gesetzlich Krankenversicherten wird ab sofort bei einem Arztbesuch eine Praxisgebühr in Höhe von 10 Euro pro Quartal zu Gunsten der Krankenkassen verlangt, die dann bis 2012 gilt. Ab 01.07.2004 wird die Praxisgebühr auf den ersten Arztbesuch im Quartal beschränkt, wenn eine Überweisung vorgelegt werden kann oder der Arzt zur selben Behandlungsklasse (niedergelassene Ärzte, Notdienste, Psychotherapeuten, Zahnärzte) gehört. Für die Arztpraxen ergibt sich als weitere Mehrbelastung die Führung einer Bargeldkasse. Auf der Grundlage des Fallpauschalengesetzes vom 14.12.2001 wird im Zeitraum 2003-2004 das marktradikale Finanzierungssystem der Fallpauschalen für Krankenhäuser (Diagnosis Related Groups, DRG) eingeführt. Nach der Theorie soll sich so eine gleichmäßige und hohe Versorgungsqualität zu günstigen Preisen herausbilden, die dem Wohl der Patient/-innen dient. Ziel ist jedoch eine Marktbereinigung, in der nur wirtschaftlich arbeitende Kliniken überleben, unabhängig von regionaler Versorgungssituation. Konkurrenz und Wettbewerb statt Kooperation der Krankenhäuser widersprechen einer Bedarfssteuerung. Krankenhausleistungen mit Preisen zu belegen führt zu Anreizen, Leistungen zu erhöhen, und so wird z.B. eine Zunahme nicht notwendiger Operationen beklagt. Marktgerechte Krankenhäuser, vor allem private, gewinnorientierte Krankenhausträger, verkaufen, im Unterschied zu freigemeinnützigen, dem als Kunden definierten Patienten mehr Produkte, führen mehr lukrative Operationen aus, die so die Fallpauschalen steigern. Lukrative Bereiche wie die interventionelle Kardiologie und Wirbelsäulenoperationen werden in Gewinnerwartung von den Krankenhäusern gezielt ausgebaut, ökonomisch unattraktive Fachabteilungen wie Kinderheilkunde, Geburtshilfe und Geriatrie abgebaut. Der gleichzeitige Zwang zur Kostensenkung mündet zunehmend in permanentem Krisenmanagement statt in der Strukturqualität, die der Gesetzgeber geplant hatte. Das Gesetz zur Reform der Strukturen der Krankenhausversorgung (Krankenhausstrukturgesetz) vom 10.12.2015 bringt keinen Marktaustritt des deutschen Gesundheitswesens. Das Gesetz verpflichtet vielmehr Gesundheitsfonds und Bundesländer, bis zu einer Mrd. Euro für einen Strukturfonds aufzubringen mit dem Ziel, "zur Verbesserung der Versorgungsstruktur insbesondere den Abbau von Überkapazitäten, die Konzentration von stationären Versorgungsangeboten sowie die Umwandlung von Krankenhäusern in nicht akutstationäre lokale Versorgungseinrichtungen (z. B. Gesundheits- oder Pflegezentren, stationäre Hospize) zu fördern. Infolge der erzeugten Disproportionen sieht sich die Bundesregierung 2019 gezwungen, mit 48 Mio. Euro Krankenhäuser in ländlichen Gebieten zu stützen. Die zunehmende Ökonomisierung und Kommerzialisierung von Krankenhaus und Gesundheitswesen wird ein entscheidendes Hindernis für eine konsequente Orientierung der Abläufe am Patientenwohl. Der deutsche Ethikrat sieht in seiner Stellungnahme vom 05.04.2016 durch Ökonomisierung der Arzt-Patient-Beziehung eine Gefahr für das Normensystem einer dem Patientenwohl verpflichteten Ethik. 2019 empfiehlt die Bertelsmann Stiftung in einer Studie, von den knapp 1400 in den Landeskrankenhausplänen aufgestellten Kliniken einen Großteil zu schließen, um deutlich weniger als 600 größere, bessere Kliniken mit mehr Personal und besserer Ausrüstung zu erhalten.

In der DDR regelte das Ministerium für Gesundheitswesen erfolgreich die Dislokation von Kliniken ausschließlich mit dem Ziel flächendeckender Versorgung und zentralisierter Spezialisierung. Das Krankenhauswesen war in der DDR im Eigentum des Staates. Mediziner waren nicht mit berufsfremden kaufmännischen Arbeiten befasst.

01.01.2005 Deutschland

Das "Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" tritt in Kraft. Mit dem Hartz IV-Gesetz wird Beschäftigungspolitik durch Verwaltung der Arbeitslosigkeit abgelöst. Die durch das Lambsdorff-Papier 1971 empfohlene Ausgliederung der Arbeitslosenhilfe in die Sozialämter wird verwirklicht durch die Zusammenführung der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe in Höhe der Sozialhilfe, verwaltet in Jobcentern. Die Zumutbarkeitskriterien werden verschärft. Prinzipiell gilt jetzt jede legale Arbeit als zumutbar, auch wenn sie deutlich unter Tarif bezahlt wird. Von den Arbeitslosen wird mehr Eigeninitiative und Eigenverantwortlichkeit verlangt. Wer Job-Angebote ausschlägt, muss erhebliche finanzielle Kürzungen in Kauf nehmen. Jugendlichen bis 25 Jahre kann die bare Unterstützung sogar ganz gestrichen werden. Dafür wird ihnen versprochen, dass jeder künftig "unverzüglich" in Arbeit oder Ausbildung, Qualifizierung oder Praktika vermittelt wird. Außerdem macht ein neu geschaffenes Einstiegsgeld in Form eines zeitlich befristeten Arbeitnehmerzuschusses auch die Aufnahme einer Tätigkeit attraktiv, die nicht so gut bezahlt ist. Die Regelleistung beträgt in den alten Bundesländern 345 Euro und in den neuen Bundesländern 331 Euro monatlich - Unterkunft, Heizung und sonstige Zulagen nicht eingeschlossen. Um finanzielle Härten abzufedern, gibt es bei Auslaufen des regulären Arbeitslosengeldes einen auf zwei Jahre befristeten Zuschlag. Für Hinzuverdienste gelten höhere Freibeträge als bei der bisherigen Sozialhilfe. Das Einkommen von Partnern wird stärker angerechnet, ebenso das Vermögen. Dabei gelten Freibeträge von 200 Euro pro Lebensjahr für Bargeld und noch einmal 200 Euro pro Lebensjahr für Vermögen, das für die Altersvorsorge bestimmt ist; maximal jeweils 13 000 Euro. Riester-Renten werden nicht angerechnet. Der Fragebogen, den Antragsteller auszufüllen haben, ist kompliziert und umfangreich.

20.04.2007 Deutschland

Das Gesetz zur Anpassung der Regelaltersgrenze an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz) hebt die Altersgrenze für die gesetzliche Rentenversicherung von 65 auf 67 Jahre ab dem 01.01.2012 an. Die Grenzen für die Altersrente für schwerbehinderte Menschen werden nach Geburtsjahrgängen auf 65 Jahre angehoben. Mit dem Gesetz zur Herabsetzung der Altersgrenze für Schwerbehinderte 1979/80 konnten sie vordem ihr Altersruhegeld mit Vollendung des 60. Lebensjahres in Anspruch nehmen.

31.12.2007 Deutschland

Ende der Liquidierung der Staatlichen Versicherung der DDR. 1990 waren deren Rechte und Pflichten auf eine rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts mit dem Namen „Staatliche Versicherung der DDR in Abwicklung“ übergegangen, die dem Bundesministerium der Finanzen unterstand. Mit dem "Gesetz über die Auflösung der Staatlichen Versicherung der Deutschen Demokratischen Republik in Abwicklung“ vom 29. August 2005 wird die Staatliche Versicherung der DDR zum 31.12.2007 aufgelöst. Ihr Privatkundengeschäft wird privatisiert und von der Allianz übernommen, die damit als Marktführer in den neuen Bundesländern etabliert wird.

16.12.2008 Deutschland

Mit dem Kinderfördergesetz haben ab dem 01.08.2013 alle Kinder vom vollendeten ersten bis zum vollendeten dritten Lebensjahr einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz. Für die Finanzierung des Ausbaus der Kinderbetreuung stehen seit 2008 mehrere Investitionsprogramme mit insgesamt 5,95 Milliarden Euro für den Ausbau zur Verfügung. Seit 2015 beteiligt sich der Bund dauerhaft jährlich mit 845 Millionen Euro sowie in den Jahren 2017 bis 2018 mit 945 Millionen Euro an den Betriebskosten. Im vierten Investitionsprogramm stellt der Bund in den Jahren 2017 bis 2021 zusätzlich 1,126 Millionen Euro bereit. In der DDR war 1989 ein Versorgungsgrad von 80 % der Kinder mit Kinderkrippenplätzen und zu 100 % seit Mitte der 80er Jahre mit Kindergartenplätzen erreicht. Mit der Beseitigung der Frauen- und Familienförderung durch den Anschluss an die BRD wurde ein nicht notwendiger sozialer Rückschritt organisiert. Durch zähen Kampf um die Erhaltung der Kindereinrichtungen ist der Versorgungsgrad im Anschlussgebiet heute erheblich besser als in den alten Bundesländern.

01.08.2013 Deutschland

Seit dem 01. August 2013 gibt es in der BRD einen Rechtsanspruch auf einen Kindergarten-/Krippenplatz für Kinder vom vollendeten ersten Lebensjahr bis zur Einschulung. Zu Grunde liegt § 24 SGB VIII. Ob ein Anspruch auf einen halbtägigen oder ganztägigen Kindergartenplatz besteht, richtet sich unter anderem nach der Berufstätigkeit der Eltern oder dem Förderbedarf des betreffenden Kindes. Der Besuch des Kindergartens ist kostenpflichtig. In der DDR bestand ein kostenfreies schulvorbereitend ausgestaltetes Kindergartensystem, geregelt 1965 mit dem Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem. Über den Schulunterricht hinausgehende Angebote wurden mit dem Anschluss an die BRD kostenpflichtig. Die in der DDR durch Kindergarten oder Vorschule gesicherte vorschulische Förderung wurde abgeschafft, und verloren ging die Qualität des ehemals ganztägigen, mit der Organisation der Schule verbundenen Hortes. Für solche Einrichtungen ist nun nicht mehr die Schule, sondern das Sozial-Ressort zuständig.

03.07.2014 Deutschland

Der Bundestag beschließt ein Mindestlohngesetz. Vordem kam es für einzelne Berufszweige, beginnend mit dem Bereich der Brief- und Postzustellung 2007, zu Mindestlohnfestsetzungen. Die Lobby der Wirtschaft hatte den Mindestlohn bis dahin erfolgreich zu verhindern vermocht: "Ohne Not würde mit diesem Schritt der Weg in eine staatliche Lohnfestsetzung bereitet und das erfolgreiche System der marktwirtschaftlichen Ordnung in seinen Grundfesten beschädigt." (Handelsblatt vom 13.03.2008). In Gesamt-Deutschland wurde ein Mindestlohn zum ersten Mal mit dem Befehl Nr. 61 der Sowjetischen Militäradministration eingeführt als relativer Ausbeutungsschutz und um Diskriminierung in der Bezahlung durch Lohnkorrekturen, -erhöhungen zu mindern. Eine sozialpolitische Forderung nach einem allgemeinen Mindestlohn hatte in Deutschland keine Tradition. Gewerkschaften sahen sich in der Kaiserzeit und der Weimarer Republik einer einseitigen obrigkeitsstaatlichen Parteinahme für die Arbeitgeberseite ausgesetzt und wehrten sich hier gegen staatliche Regulierung. In der Zeit des Faschismus waren die Gewerkschaften zerschlagen und mit der Deutschen Arbeitsfront als sogenannter Einheitsverband von Arbeitnehmern und Arbeitgebern vollständig dem Führerprinzip ausgeliefert, in dem die Wirtschaftsverbände ihre Machtstellung sichern konnten. In Frankreich gibt es den Mindestlohn seit 1950. Die französische Verfassung schreibt zwingend vor, dass Staat und Politik dafür zu sorgen haben, dass jeder Bürger die materiellen Voraussetzungen hat, sich entfalten zu können. Wer 8 Stunden am Tag arbeitet, soll davon in Frankreich auch leben können. Eine parlamentarische Anfrage der Partei Die LINKE ergab im Mai 2011: Mit weniger als 5 Euro die Stunde werden über 1,3 Mill. Beschäftigte bezahlt. Weniger als 6 Euro erhalten 2,2 Millionen Beschäftigte, weniger als 7 Euro 3,3 Mill. arbeitende Menschen. Das sind insgesamt 18 % aller Werktätigen in Deutschland; der Niedriglohnsektor mit weniger als 9 €/Stunde liegt weit über 20 %. Viele Geringverdiener sind qualifiziert: Rund 70 % haben eine Berufsausbildung, zehn Prozent sogar einen Hochschulabschluss. (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Berlin.) In der DDR wurden Löhne und Gehälter erst in Tarifverträgen, später dann in Rahmenkollektivverträgen bzw. in Betriebskollektivverträgen geregelt. Gemäß § 95 Arbeitsgesetzbuch der DDR vom 16.07.1977 gewährleistete der sozialistische Staat, dass das materielle und kulturelle Lebensniveau der Werktätigen hauptsächlich über das Arbeitseinkommen gesichert wird und bestimmte mit § 97 ff., dass die Tariflöhne durch den Ministerrat und den Bundesvorstand des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) festgelegt und durch Rahmenkollektivverträge vereinbart werden. Die Eingruppierungen der Arbeitsaufgaben erfolgten zwischen den zentralen Staatsorganen und der Gewerkschaft/den Industriegewerkschaften als Bestandteil dieser Verträge.

08.03.2019 Deutschland

Bundesweiter Frauenstreik am 8. März, dem Internationalen Frauentag. Im November 2018 durch ein erstes bundesweites Vernetzungstreffen für einen Frauenstreik vorbereitet, knüpft er an die globale Streikbewegung von Frauen an. Gefordert werden das Recht auf politischen Streik, Stopp der Benachteiligung bei sozialer Absicherung und u.a.: Mindestrentenniveau auf 1400 € Netto anheben, gleiches Geld für gleiche Arbeit (Entgeltgleichheitsgesetz), Lohn und Wertschätzung für Haus- und Sorgearbeit, die Abschaffung des Prostituiertenschutzgesetzes, Ost- und Westlöhne in allen Berufen angleichen, Hartz IV abschaffen, Grundsicherung ohne Schikane für alle, Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden pro Woche bei vollem Lohnausgleich, Stopp der Privatisierung aller Daseinsversorgungen, bezahlbarer Wohnraum, Immobilienunternehmen enteignen, Recht auf körperliche und geschlechtliche Selbstbestimmung, §§ 218 und 219a StGB abschaffen, kostenlose Schwangerschaftsabbrüche, ärztliche Gutachtenpflicht zur Anerkennung von Trans- und Intergeschlechtlichkeit abschaffen.

14.06.2019 Deutschland

Das Arbeitsgericht Tiergarten verurteilt zwei Frauenärztinnen wegen unzulässiger Werbung für Schwangerschaftsabbrüche nach dem neugefassten § 219a StGB zu einer Geldstrafe. Proteste vor dem Gerichtsgebäude. Die in einer Gemeinschaftspraxis tätigen Ärztinnen hatten auf ihrer Webseite nicht nur darüber informiert, dass bei ihnen der Eingriff ausgeführt wird, sondern gesetzeswidrig darauf hingewiesen, nach welcher Methode das erfolgt. Verurteilt wird auf der Grundlage des inzwischen etwas modifizierten § 219a StGB. Der Strafrechtsänderung liegt der Beschluss der CDU/CSU vom 06.02.2019 zu Grunde, dem sich die koalierende SPD anschloss. Nach Entscheidung dieses Gesetzgebers wurde der Werbeverbotsparagraph durch einen ergänzenden Abs. 4 erweitert. Damit obliegt die Aufgabe der Information über die Arten und Umstände eines Schwangerschaftsabbruchs ausschließlich den zuständigen Behörden, den Ärztekammern und Beratungsstellen. Die Verurteilung der Ärztin Kristina Hänel aus Gießen wegen „Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft“ hatte im November 2017 eine breite Diskussion über den Paragraphen 219 a Strafgesetzbuch ausgelöst. FDP, LINKE und Bündnis 90/Die Grünen fordern die Streichung der §§ 218 und 219a StGB. In der DDR mit dem Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft 1972 legalisiert, fanden in der BRD weiter „Hexenprozesse“ wie der gegen Dr. Horst Theissen ab 1988 statt, der für Dr. Theissen mit einer Verurteilung zu einer Haftstrafe auf Bewährung und Berufsverbot – wegen Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen – endete. Die in der DDR selbstverständlichen Frauenrechte, beseitigt durch oktroyiertes Werte- und Rechtssystem der BRD, bleiben in Deutschland Thema des Kampfes um soziale Gerechtigkeit, wie auch ebenso gegen unverhältnismäßige Eingriffe in den Arztberuf, auch gegen religiösen Fundamentalismus und auch dafür, dass ein in der Weimarer Republik am 07.05.1926 abgeschaffter Paragraph, von den Nazis nach Machtübertragung 1933 sofort wieder eingeführt, nicht weiter fort gilt.