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Sozialpolitik in der BRD

Sozialpolitik in der DDR

Wiederbewaffnungs-Debatten 1948/49


Dr. Reiner Zilkenat, Hoppegarten, 01.09.2019

 

 

Am 2. Januar 1956 schlug die Geburtsstunde der Bundeswehr. Mehrere „Lehr-Kompanien“ begannen mit der Ausbildung der ersten Freiwilligen. Am 21. Juli 1956 verabschiedete der Bundestag gegen die Stimmen der SPD-Abgeordneten das „Wehrpflichtgesetz“; die ersten zum Wehrdienst verpflichteten jungen Männer wurden zum 1. April 1957 einberufen.

Die ersten Schritte auf dem Weg zur Schaffung einer 500.000 Mann umfassenden Bundeswehr waren damit absolviert worden. Doch die Vorgeschichte der BRD-Streitkräfte reicht zurück in die Jahre 1948/49, als noch in den Westzonen die Besatzungsmächte regierten bzw. die Bundesrepublik gerade das Licht der Welt erblickt hatte.

 

Spaltung Deutschlands wird vorangetrieben

Nur wenige Jahre nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges, angesichts von Trümmerlandschaften in den Städten Europas, angesichts von mehr als 50 Millionen Kriegstoten und unzähligen Verwundeten, soll es Stimmen für die Aufrichtung einer neuen deutschen Militärmacht gegeben haben? Nur wenige Jahre, nachdem die Wehrmacht der Hitlerfaschisten halb Europa in Schutt und Asche gelegt hatte?

Ausgangspunkt, um eine Debatte zur Remilitarisierung der Westzonen auszulösen, war der sich allmählich entfaltende Kalte Krieg zwischen den USA sowie ihren europäischen Verbündeten einerseits und der Sowjetunion andererseits. Das von den Alliierten besetzte Deutschland wurde ein Aktionszentrum des Kalten Krieges.

 

Entgegen den Festlegungen des im August 1945 zwischen den Vereinigten Staaten, Großbritannien sowie der Sowjetunion abgeschlossenen Potsdamer Abkommens wollten die USA nicht ernsthaft daran festhalten, Deutschland als Ganzes von den „Großen Drei“ (zu denen Frankreich als vierte Besatzungsmacht ab Juni/Juli 1945 hinzustieß) zu regieren. George F. Kennan, US-amerikanischer Botschaftsrat an der diplomatischen Vertretung seines Landes in Moskau und später Leiter des Planungsstabes im Außenministerium, brachte diesen Gedanken leitmotivisch in einer geheimen Aufzeichnung vom Sommer 1945 zu Papier: „Die Idee, Deutschland gemeinsam mit den Russen regieren zu wollen, ist ein Wahn. Wir haben keine andere Wahl, als unseren Teil von Deutschland zu einer Form von Unabhängigkeit zu führen, die so befriedigend, so gesichert, so überlegen ist, daß der Osten sie nicht gefährden kann. Besser ein zerstückeltes Deutschland, von dem wenigstens der westliche Teil als Prellbock für die Kräfte des Totalitarismus wirkt, als ein geeintes Deutschland, das diese Kräfte wieder bis an die Nordsee heran läßt.“ (George F. Kennan, Memoiren eines Diplomaten. Memoirs 1925-1950, 3. Aufl., Stuttgart 1968, S. 262 f.) Ganz in diesem Sinne handelte der US-amerikanische Militärgouverneur in Deutschland, General Lucius D. Clay. In einem Brief an seinen Wirtschaftsberater Generalmajor William Draper, im Zivilberuf Investmentbanker in New York, formulierte er am 6. November 1947: „Ich muß mit allem mir zur Verfügung stehenden Ernst sagen, daß 42 Millionen Deutsche in der britischen und amerikanischen Zone der stärkste Vorposten gegen das kommunistische Vordringen sind, den es irgendwo gibt.“ (Zitiert nach John H. Backer: Die deutschen Jahre des Generals Clay. Der Weg zur Bundesrepublik 1945-1949, München 1983, S. 235.)

 

Inzwischen waren die ersten bedeutsamen Schritte zur Bildung eines westdeutschen Staates vollzogen worden: Am 1. Januar 1947 wurde aus den Besatzungszonen der USA und Großbritanniens die sogenannte Bizone konstituiert, für die bis Ende 1948 eigenständige, staatsähnliche Verwaltungsstrukturen geschaffen wurden: Ein Parlament, der sogenannte Wirtschaftsrat; ein aus Abgeordneten der elf westdeutschen Landtage bestehender Parlamentarischer Rat, der eine Verfassung für den „Weststaat“ ausarbeiten sollte; eine Zentralbank („Bank deutscher Länder“); ein Oberster Gerichtshof; fünf zentrale „Verwaltungen“ für Wirtschaft, Finanzen, Landwirtschaft, Post- und Fernmeldewesen sowie Verkehr, an deren Spitze deutsche „Direktoren“ standen. Alle diese Einrichtungen unterstanden der Kontrolle westalliierter Instanzen und besaßen noch nicht vollständig die Kompetenzen von Behörden eines souveränen Staates. Dennoch existierten jetzt administrative Strukturen, die der unmittelbaren Vorbereitung eines westdeutschen Staates dienten. Flankiert wurden diese Maßnahmen im Juni 1948 durch die Einführung einer neuen Währung in den Westzonen und in den westalliierten Sektoren in Berlin, der „D-Mark“. Auf diese Weise wurden in Deutschland zwei unterschiedliche Währungs- und Wirtschaftsgebiete geschaffen, die eine politische Spaltung nach sich ziehen mussten. Diese auf Weisung der US-amerikanischen Regierung seit dem Herbst 1947 vorbereitete Währungsreform (Code-Name: „Operation Bird Dog“) stellte, wie es der Historiker Wolfgang Benz von der Technischen Universität Berlin zutreffend formuliert, „schon ein Gründungsdatum der Bundesrepublik und der DDR und deren Systemkonkurrenz“ dar. „Die Spaltung Deutschlands ging vom Westen aus, sie blieb zentrales Thema des kalten Krieges.“ (Der Tagesspiegel, 18. 6. 2019.) Dem bleibt nichts hinzuzufügen.

 

Deutschland im beginnenden Kalten Krieg

Die von den USA organisierte Spaltung Deutschlands diente gleichsam „höheren Zwecken“. Es ging letztlich darum, die Westzonen in ein antisowjetisches Bündnissystem einzubeziehen, zunächst in politischer und wirtschaftlicher, schließlich aber auch in militärischer Hinsicht.

Wie konnte es nach dem Sieg der Alliierten über Hitlerdeutschland zu einer derartigen Lage kommen?

 

Die USA hatten den Krieg bekanntlich nicht auf eigenem Territorium führen müssen. Die UdSSR wurde dagegen länger als drei Jahre von den deutschen Besatzern systematisch ausgeplündert. Mehrere Millionen Zivilisten waren von den Einsatzgruppen des Sicherheitsdienstes (SD) der SS und der Wehrmacht ermordet bzw. als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt worden. Weit mehr als zwei Millionen sowjetische Kriegsgefangene verhungerten oder starben an den Folgen von Krankheiten. Beim Rückzug der faschistischen Armee war das Ergebnis der von ihr angewandten Taktik der „verbrannten Erde“ die Vernichtung unzähliger Städte und Dörfer, Straßen und Eisenbahnstrecken, Fabriken und Förderanlagen. Im Gegensatz dazu waren die USA von unmittelbaren Kriegsfolgen vollkommen verschont geblieben.

Nach Beendigung des Krieges waren die Vereinigten Staaten das mit weitem Abstand ökonomisch am meisten entwickelte und reichste Land der Welt. Nur einige Zahlen mögen diesen Sachverhalt verdeutlichen. Die USA verfügten nach dem Krieg über zwei Drittel der Industriekapazitäten und über mehr als die Hälfte der Goldreserven weltweit. Ein Drittel aller Exportgüter und etwa drei Viertel des globalen Anlagekapitals stammten aus den Vereinigten Staaten. Zugleich beherrschten sie knapp sechzig Prozent der Welterdölproduktion. Vor allem aber waren sie der mit Abstand größte Gläubiger, der weitgehend die Finanzierung des Krieges gegen Hitlerdeutschland organisiert hatte. Im Übrigen befand sich die Atombombe im exklusiven Besitz der USA, und sie blieb es bis zum August 1949, als die UdSSR ihren ersten erfolgreichen Test mit der neuen Massenvernichtungswaffe durchführte, ohne allerdings über geeignete Trägermittel zu verfügen. Ferner ist zu beachten, dass die Vereinigten Staaten bereits kurz nach Kriegsende damit begonnen hatten, ein immer dichter gestricktes Netz von Militärstützpunkten in der Nähe sowjetischer Grenzen anzulegen und für ihre schnell wachsende Strategische Bomberflotte Stationierungs-, Lande- und Überflugrechte mit anderen Staaten zu vereinbaren.

 

Die ökonomische und militärische Überlegenheit der USA war nach Kriegsende geradezu erdrückend. Die durch Präsident Harry S. Truman geführte Administration, die nach dem Tod Franklin D. Roosevelts am 12. April 1945 ins Amt gekommen war, proklamierte das „amerikanische Jahrhundert“, d. h. eine Weltordnung, die von der Durchsetzung der politischen, wirtschaftlichen und militärstrategischen Interessen der Vereinigten Staaten geprägt sein sollte: „America first!“ lautete die Parole. Als primärer Widerpart bei der Realisierung wurde die UdSSR identifiziert; das bei den USA hoch verschuldete und ökonomisch stark geschwächte Großbritannien sollte lediglich die Rolle eines Juniorpartners spielen. In diesen Kontext, der hier nur angedeutet werden kann, ordnete sich fortan die Besatzungspolitik der USA in Deutschland ein. Die in Potsdam noch gemeinsam mit Winston Churchill und Josef Stalin vereinbarte Demilitarisierung und Entnazifizierung des in vier Besatzungszonen aufgeteilten Landes wurde zugunsten einer Politik zur Disposition gestellt, die sich von der sukzessiven Eingliederung der Westzonen in ein antisowjetisches Bündnissystem und der perspektivischen Konstituierung eines kapitalistischen westdeutschen Separatstaates leiten ließ, dessen Geburtshelfer und Hauptverbündeter die USA sein würden.

 

Dabei bedienten sich die USA, aber auch Großbritannien, nicht nur der Wissenschaftler und Techniker, die in Nazideutschland moderne Waffensysteme, vor allem ballistische Raketen, entwickelt hatten. Auch viele Angehörige der Repressionsorgane, darunter leitende Mitarbeiter der Gestapo und des Reichssicherheitshauptamtes, konnten ihre jahrelangen Erfahrungen bei der Verfolgung von Kommunisten, Gewerkschaftern und Sozialdemokraten sowie von bürgerlichen Oppositionellen jetzt „nutzbringend“ im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion anwenden. Gleiches galt für die „Abteilung Fremde Heere Ost“ des Generalstabes unter dem Kommando von Generalmajor Reinhard Gehlen. Sie verfügte über sensible Informationen zur Lage in der UdSSR und über Agenten, die von den sowjetischen Sicherheitsbehörden nicht enttarnt worden waren. Dieser als „Organisation Gehlen“ bezeichnete Geheimdienst arbeitete bis zur Mitte der fünfziger Jahre unter dem unmittelbaren Kommando des 1947 von der Truman-Administration gegründeten Geheimdienstes CIA (Central Intelligence Agency).

Und weiter: Dutzende Generäle und Stabsoffiziere der Nazi-Wehrmacht wurden zudem für die „Historical Division“ der U.S. Army angeworben, für die sie – bis zum Anfang der sechziger Jahre – Studien über ihre Erfahrungen im Angriffskrieg gegen die Sowjetunion erarbeiteten und entsprechende Vorträge vor Offizieren und Offiziersschülern der amerikanischen Streitkräfte hielten. Natürlich stand im Mittelpunkt die Beantwortung der Frage, was bei einer erneuten Aggression gegen die UdSSR im Vergleich zum Krieg von 1941 bis 1945 „besser geplant „werden könnte.

 

Mit der Durchsetzung des Kalten Krieges als dominierende Tendenz in den internationalen Beziehungen während des Jahres 1947 war es naheliegend, dass eine antisowjetische Front in Europa nur mit Hilfe des großen industriellen Potenzials der Westzonen und einer westdeutschen Armee aufgestellt werden konnte, befehligt von Generälen wie zum Beispiel dem ersten Generalinspekteur der Bundeswehr, Adolf Heusinger, deren Erfahrungen aus dem im Juni 1941 entfesselten Aggressionskrieg gegen die UdSSR von großem Wert waren. Der Unterschied bestand allerdings darin, dass dieses Mal deutsche Truppen unter US-amerikanischem Oberkommando stehen würden.

 

Tatsächlich gab es seit den ersten Friedenstagen 1945 in den USA Stimmen verantwortlicher Politiker und Militärs, die konkrete Planungen für einen Krieg gegen die Sowjetunion forderten bzw. ausarbeiteten. Stellvertretend sei der stellvertretende Außenminister Joseph C. Grew zitiert. Er notierte nur wenige Tage nach Kriegsende in sein Tagebuch: „Ein zukünftiger Krieg mit Rußland ist so sicher wie irgendetwas auf der Welt nur sein kann. Er mag innerhalb weniger Jahre ausbrechen. Wir sollten deshalb darauf achten, unsere militärische Stärke aufrecht zu erhalten und alles zu unternehmen, was in unserer Macht steht, um unsere Beziehungen zur freien Welt zu stärken.“ (Joseph C. Grew: Turbulent Era. A Diplomatic Record of Forty Years, 1904-1945, edited by Walter Johnson, Vol. II., Boston 1952, S. 1445, Übersetzung R. Zilkenat). Und der einflussreiche Soziologe und Mitarbeiter der CIA, James Burnham, schrieb in seinem viel zitierten Buch „Die Strategie des Kalten Krieges”: Man benötige keine geheimen Informationen über die Ziele der sowjetischen Politik, „um zu wissen, daß alle Kräfte der politischen und militärischen Kriegsplanung in den Vereinigten Staaten sich heute auf die Aufgabe konzentrieren, einen Kriegsplan gegen die Sowjetunion […] auszuarbeiten.“ (James Burnham: Die Strategie des Kalten Krieges, Stuttgart 1950, S. 134.) Was der Autor nicht wissen konnte: Bereits seit dem November 1945 existierten von den Stabschefs der US-Streitkräfte ausgearbeitete, streng geheime Planungen für die Führung eines Nuklearkrieges gegen die UdSSR, die u. a. die Vernichtung von zwanzig Städten durch den Abwurf von Atombomben beinhalteten. Diese Pläne wurden in den folgenden Jahren weiterentwickelt und differenziert, besonders hinsichtlich der Anzahl der zu vernichtenden Ziele, da sich im Arsenal der Strategischen Bomberflotte eine stetig wachsende Zahl von Atomwaffen befand. Die Gefährlichkeit dieser Planungen wurde noch dadurch erhöht, dass sie von der Möglichkeit ausgingen, einen Krieg gegen die Sowjetunion legitim mit „Erstschlägen“ zu beginnen, ihn also als nuklearen Aggressionskrieg zu führen.

Diese Zusammenhänge gilt es im Gedächtnis zu behalten, wenn wir im Folgenden öffentlich geführte Debatten und Berichte in der Presse zur Wiederaufrüstung in den Westzonen nachzeichnen, illustriert am Beispiel einiger Beiträge der Tageszeitungen „Die Welt“ und „Der Tagesspiegel“.

 

Die erste im Folgenden abgedruckte Meldung der „Welt“ dürfte überraschen. Ausgerechnet im britischen Oberhaus meldete sich Lord Pakenham zu Wort, der nicht das Risiko eines Wiederauflebens des deutschen Militarismus erkennen konnte, sondern den „Kommunismus“ als angebliche Gefahr für Europa proklamierte.

 

(Die Welt: Deutsche Einheit vom Westen her, 04.03.1948)

 

Sollte der deutsche Militarismus aber keine Gefahr darstellen, könnte dann nicht an eine Wiederaufrüstung der Westzonen gedacht werden? Derartige Äußerungen waren in Großbritannien sehr unpopulär, denn in London und anderen Städten waren die Spuren der Bombenangriffe der Göringschen Luftwaffe unübersehbar. Und vor nicht allzu langer Zeit hatten die letzten deutschen Kriegsgefangenen das Land verlassen.

 

Großes internationales Aufsehen erregte ein Artikel des französischen Publizisten und Politikwissenschaftlers Maurice Duverger, der zunächst in der Pariser Tageszeitung „Le Monde“, die als linksliberal galt, abgedruckt wurde. Er stellte die Ouvertüre für die öffentliche Debatte zur Remilitarisierung Westdeutschlands dar – weit über Frankreich hinausreichend. In Deutschland druckte ihn die „Welt“ am 27. November 1948 im vollen Wortlaut nach. Der Autor behauptete, dass sich Europa, womit er Westeuropa meinte, vor einem Angriff von außen schützen müsste. Dass damit nichts anderes als eine vermeintlich drohende Aggression der UdSSR gemeint war, stand außer Frage. Als geeignetes Mittel, einen derartigen Angriff abzuwehren, propagierte er die Schaffung einer gemeinsamen französisch-deutschen Armee, ja mehr noch, einer französisch-deutschen Allianz, ohne deren Existenz das von ihm antisowjetisch definierte Westeuropa nicht möglich sei.

 

(Die Welt: Aufsehenerregender Vorstoß, 27.11.1948)

 

Duvergers Artikel schlug hohe Wellen. Nicht näher bezeichnete Londoner Kreise dementierten die Existenz derartiger oder ähnlicher Überlegungen innerhalb der britischen Regierung. Allerdings zeigte sich die einflussreiche „Times“, die traditionell als dem Außenministerium nahestehend galt, für die in „Le Monde“ geäußerten Vorschläge aufgeschlossen.

Es drängt sich der Eindruck auf, dass hier ein Testballon gestartet worden war, um die Stimmung in der Öffentlichkeit zu einer beabsichtigten Remilitarisierung der Westzonen zu ermitteln.

 

(Die Welt: Zurückgewiesene Spekulationen, 30.11.1948)

 

Beinahe eine Sensation stellte der am 14. Dezember 1948 in der „Welt“ veröffentlichte Beitrag „Remilitarisierung Deutschlands?“ aus der Feder von Carlo Schmid dar. Der Verfasser dieses Artikels war nicht irgendwer, sondern einer der maßgeblichen Repräsentanten der SPD. Er gehörte dem Parteivorstand bzw. seit 1949 dem Parteipräsidium an und war Vorsitzender der SPD-Fraktion im Parlamentarischen Rat. 1959 wurde er Kandidat seiner Partei bei der Wahl des Bundespräsidenten, später amtierte er u. a. als Bundesminister und seit 1949 als Vizepräsident des Bundestages. Schmid nahm in seinem Artikel den Ball auf, den Duverger in die öffentliche Diskussion geworfen hatte. Er plädierte nicht grundsätzlich gegen eine Wiederbewaffnung der Westzonen (nur sie waren gemeint, wenn er von Deutschland schrieb), sondern erweiterte den Vorschlag Duvergers zur Schaffung einer französisch-deutschen Armee, indem er die Gründung einer einheitlichen europäischen Armee forderte (nur Westeuropa war gemeint, wenn er von Europa schrieb), in die Kontingente aus den Westzonen eingegliedert werden könnten. Ein derartiger Vorschlag stellte für die Jahreswende 1948/49, formuliert von einem führenden deutschen Sozialdemokraten, geradezu eine Sensation dar. Übrigens: Wenn Carlo Schmid in seinem Beitrag von „kollektiver Sicherheit“ sprach, dann meinte er damit nicht eine gemeinsame Sicherheit für alle Staaten Europas einschließlich der UdSSR und ihrer Verbündeten. Vielmehr ging es ihm um die Herstellung politischer und militärischer Strukturen westeuropäischer Staaten mit der Zielrichtung Sowjetunion. Dass diese Strukturen nur zu realisieren waren unter aktiver Mithilfe, ja nach den Vorgaben US-amerikanischer Politik, stand damals außer Frage.

 

(Die Welt: Remilitarisierung Deutschlands?, 14.12.1948)

 

Eine zu schaffende politische, ökonomische und militärische Allianz blieb von nun an eine von führenden politischen Repräsentanten und von der Presse, nicht nur in Frankreich und in den Westzonen, ausgiebig diskutierte Thematik.

Ein halbes Jahr später, das Grundgesetz der BRD war zehn Tage zuvor in der abschließenden Sitzung des Parlamentarischen Rates verkündet worden, legte Duverger wiederum in „Le Monde“ und in der „Welt“ nach. In einem am 2. Juni 1949 publizierten Artikel schlug er vor, dass die entstehende Bundesrepublik Deutschland Mitglied des am 4. April 1949 gegründeten Militärbündnisses „Atlantikpakt“, der NATO, werden sollte. Und am 22. September 1949 las man wiederum in der „Welt“ einen Beitrag Duvergers, in dem er schon in der Überschrift für die Gleichberechtigung Westdeutschlands mit Frankreich eintrat und ein weiteres Mal den Abschluss eines französisch-deutschen Bündnisses forderte.

 

(Die Welt: Deutschland am Scheideweg, 02.06.1949)

(Die Welt: Worauf wartet Europa, 22.09.1949)

 

Derartige Vorschläge beunruhigten die Öffentlichkeit, besonders in Frankreich und Großbritannien. Dies galt umso mehr, als offenbar auch in den USA ähnliche Überlegungen innerhalb der Regierung angestellt wurden. Schweizer Zeitungen, so berichtete „Die Welt“ am 4. August 1949, teilten mit, dass innerhalb der Truman-Administration und im Kongress die Bereitschaft vorhanden sei, eine „beschränkte deutsche Aufrüstung“ anzustreben. Ganz in diesem Sinne meldeten die „Welt am Sonntag“ und „Die Welt“ am 9. Oktober bzw. am 24. November 1949, dass die Senatoren Tyding (Vorsitzender des Militärausschusses im Senat) und Elmer Thomas eine Mitgliedschaft der soeben gegründeten BRD in der NATO sowie die Aufstellung einer „gewissen Anzahl von Divisionen“, bestehend aus westdeutschen Soldaten, vorgeschlagen hätten. General Omar Bradley, Vorsitzender des Komitees der Vereinigten Stabschefs der US-Streitkräfte, ließ zur gleichen Zeit verlauten, dass er zwar „zum gegenwärtigen Zeitpunkt“ nicht für eine Wiederaufrüstung der BRD sei, diese Frage müsse aber abhängig „von den Umständen“ entschieden werden.

 

(Die Welt: „Atlantikpakt mit Deutschland“, 26.09.1949)

(Der Tagesspiegel: Brandleys Vorbesprechung in Paris, 28.11.1949)

 

Wie wurde die Debatte in London und Paris geführt? Hier war es nötig, die Öffentlichkeit zu beruhigen, indem derartige Diskussionen als rein theoretisch und von keinerlei aktueller Bedeutung abgetan wurden. Lediglich Feldmarschall Jan Smuts, langjähriger Premierminister der zum Britischen Commonwealth gehörenden Südafrikanischen Union, focht unter der Überschrift „Ordnung im europäischen Haus“ in der „Welt“ für die Gleichberechtigung Deutschlands mit den anderen westeuropäischen Staaten.

 

(Die Welt: Ordnung im westeuropäischen Haus“, 20.10.1949)

 

In London fühlte sich die Regierung gezwungen, die Existenz von Plänen des US-Präsidenten Harry S. Truman und seines Außenministers Dean Acheson zur Remilitarisierung der BRD zu dementieren. Aber allen Dementis zum Trotz wuchs am Ende des Jahres 1949 die Anzahl von Politikern, Publizisten und Militärs, die sich öffentlich für die Schaffung einer westdeutschen Armee aussprachen. Die führende englische Wirtschaftszeitschrift „The Economist“ erklärte eine solche Armee für „unvermeidlich“, der bereits zitierte US-Senator Elmar Thomas verstieg sich bei einem Aufenthalt in London sogar zu der Formulierung, dass „[West-] Deutschland eine große Macht werden“ müsse.

 

(Die Welt: Schwache Dementis, 22.11.1949)

(Die Welt: USA-Senatoren für „deutsche Divisionen“, 24.11.1949)

(Die Welt: “Bewaffnung Deutschlands notwendig”, 28.11.1949)

 

In Frankreich artikulierten sich verschiedenartige Stimmen. Während der Informationsminister Teitgen und Außenminister Schumann behaupteten, Frankreich werde der geforderten Wiederaufrüstung nicht zustimmen, solle aber mit einer Eingliederung der BRD in übernationale wirtschaftliche und politische Strukturen einverstanden sein, ließ General De Gaulle angesichts der im August 1949 erfolgten Explosion der ersten sowjetischen Atombombe durchscheinen, dass er unter gewissen Bedingungen darüber hinaus einer neu zu schaffenden westdeutschen Armee zustimmen könnte. US-Außenminister Acheson stimmte in diesen Chor mit ein, ließ aber verlauten, dass erst eine starke französische Armee aufgebaut werden müsse, bevor an eine Remilitarisierung des westdeutschen Staates zu denken sei.

 

(Der Tagesspiegel: Teitgen: keine Wiederaufrüstung, 23.11.1949)

(Die Welt: Paris verständigungsbereit, 25.11.1949)

(Der Tagesspiegel: Elbe-Westeuropas Verteidigungslinie, 12.11.1949)

 

Und was sagte Konrad Adenauer, der erste Bundeskanzler der BRD?

Der „Tagesspiegel“ meldete am 20. November 1949, der Regierungschef wünsche keine neue Armee, weil er dadurch eine Wiederbelebung „militaristischer Ideen“ befürchte. Nur kurz darauf, am 6. Dezember, überschrieb die gleiche Zeitung einen Artikel „Adenauer grundsätzlich gegen Wiederaufrüstung“.

 

(Der Tagesspiegel: Adenauer an Frankreich, 20.11.1949)

(Der Tagesspiegel: Adenauer grundsätzlich gegen Wiederaufrüstung, 06.12.1949)

 

Doch der Wahrheitsgehalt dieser Aussagen, das sollte die Entwicklung der kommenden Jahre beweisen, war nicht sehr hoch zu veranschlagen. Die in der Presse und von Regierungsvertretern und Publizisten in Washington, London und Paris geführte Wiederaufrüstungs-Debatte der Jahre 1948/49, in die alsbald westdeutsche Prominenz mit einstimmte, wurde in den kommenden Jahren zum beherrschenden Thema bundesdeutscher Innenpolitik und der Beziehungen zwischen Ost und West.

Am Ende stellte die BRD das größte Truppenkontingent der NATO in Europa und die Bundeswehr galt als eine moderne und kampfkräftige Armee, die bald auch mit US-amerikanischen Atomwaffen und den dazugehörenden Trägersystemen ausgerüstet wurde. Diese nuklearen Waffensysteme blieben allerdings bis zum heutigen Tag in der Verfügungsgewalt der US-Streitkräfte. Dennoch: Die BRD besaß von nun an zumindest einen Finger am atomaren Abzug, um – wie es der Herausgeber des „Spiegels“ Rudolf Augstein formulierte – „als Teilhaber eines atomaren (vielleicht gar präventiven) Schlages gleichberechtigt dazustehen.“ (Der Spiegel, Nr. 12, 29. 8. 1966, S. 12.) Konrad Adenauer verharmloste im Übrigen die Bedeutung der atomaren Bewaffnung während einer Pressekonferenz am 5. April 1957 in Bonn mit den oft zitierten Worten: „Unterscheiden Sie doch die taktischen und die großen atomaren Waffen. Die taktischen Waffen sind nichts weiter als die Weiterentwicklung der Artillerie.“ (Konrad Adenauer: Erinnerungen 1955-1959, Stuttgart und Hamburg 1967, S. 292.)

Für die UdSSR war politisch wie psychologisch bedeutsam, dass die Atombewaffnung der Bundeswehr nur etwas mehr als ein Jahrzehnt nach der Verwüstung des Landes durch die faschistische Wehrmacht begann. Wiederum war das Land von einer Aggression bedroht, die von deutschem Boden und von deutschen Streitkräften ausgehen konnte. Deshalb blieben die Bemühungen der Sowjetunion, auf eine Vereinigung Deutschlands hinzuwirken, das politisch und militärisch nicht in ein antisowjetisches Bündnis eingeordnet wäre, sondern außenpolitische Neutralität bewahren und mit der UdSSR in guter Nachbarschaft leben würde, eine überaus wichtige Konstante ihrer Außenpolitik in den späten 1940er und in den 1950er Jahren. Die Wiederbewaffnungs-Debatte im Westen Deutschlands, die bereits in den Jahren 1948/49 begann, wies einen anderen Weg.

Es bleibt die Frage nach den Alternativen der Geschichte. Was wäre der Menschheit, was wäre Deutschland erspart geblieben, wenn in Washington nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht diejenigen Kräfte die Oberhand gewonnen hätten, die auf Konfrontation anstatt auf Kooperation mit der UdSSR setzten?

 

Dr. Reiner Zilkenat