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Sozialpolitik in der BRD

Sozialpolitik in der DDR

Aus: Die Tageszeitung „junge Welt“Ausgabe vom 21.10.2019, Seite 12 / Thema

Die Stasi und die Schwulen

Wahn und Wirklichkeit

Was der Staatssicherheit der DDR im Umgang mit den Homosexuellen angedichtet wird und wie sie versuchte, deren Forderungen aufzugreifen

Von Wolfgang Schmidt

 

Wolfgang Schmidt, Oberstleutnant a. D. , Diplomkriminalist, war Angehöriger des Ministerium für Staatssicherheit (MfS) von 1966 bis 1989, zuletzt als Leiter der Auswertungs- und Kontrollgruppe (AKG) der Hauptabteilung XX. 1992 gehörte er zu den Mitbegründern des Insiderkomitees zur Förderung der kritischen Aneignung der Geschichte des MfS, deren Homepage er bis heute verantwortet (https://www.mfs-insider.de). Am 24. Oktober begeht er seinen 80. Geburtstag.

In diesen Tagen erscheint im Berliner Verlag Edition Ost von Stefan Spector das Buch »Mit der Stasi ins Bett. Die kurze Karriere eines Romeos«. Der Autor schildert darin, wie er 1988 von der Aufklärung der DDR angeworben wurde und zum Agenten ausgebildet werden sollte mit der Maßgabe, langfristig im Auswärtigen Amt in Bonn Karriere zu machen. Der Perspektivspion mit FDP-Parteibuch war dann 1994 der erste offen schwule Bewerber für ein Bundestagsmandat. Kurz darauf wurde er enttarnt. Wir veröffentlichen an dieser Stelle das Nachwort des ehemaligen Offiziers des Ministeriums für Staatssicherheit, Wolfgang Schmidt. (jW)

»Hinsichtlich der Rechte für Homosexuelle war die DDR fortschrittlicher. « Mit dieser gewiss zutreffenden selbstkritischen Feststellung beginnt ein Beitrag, den die Bundeszentrale für politische Bildung im Februar 2018 auf ihrer Homepage veröffentlichte. Dieser Text ist dort noch immer zu lesen. Allerdings auch Behauptungen wie diese: »Die Staatssicherheit überwachte die schwul-lesbische Szene noch in den 1980er Jahren. « Nun, der »Dämon« observierte bekanntlich alles in der DDR, er hörte das Gras wachsen und sah Ufos im märkischen Sand landen, er ließ Kinder im Ungewissen über die menschenverachtende Profession ihrer Väter oder sorgte für Zwangsadoptionen sowie für die Arretierung von Teenagern in Jugendwerkhöfen, die Stasi dopte Spitzensportler und brach Biographien … Warum sollte sie nicht auch die Lesben und Schwulen überwacht haben?

Fortgesetzte Diskriminierung

Wir kennen die Klischees und Stereotype, welche seit dessen Ende über das MfS verbreitet werden. Inzwischen nehmen, allem Anschein nach, viele Landsleute aufgrund ihrer steten Wiederholung diese Legenden und Lügen für bare Münze. Das sollte Augen- und Zeitzeugen, die es anders wissen, geradezu zwingen, ihre Erinnerungen weiterzugeben, um der staatlich verordneten Geschichtsklitterung zu widersprechen. Stefan Spector macht dies hier. Der bekennende Schwule bekam es mit der Staatssicherheit zu tun – aber nicht, weil er vom anderen Ufer, sondern weil er aus dem Westen war. Unsere Aufklärung warb den Studenten als ­Perspektivagenten an. 1988.

Wir beide lernten uns in den neunziger Jahren auf einer Konferenz in Jena kennen, die sich mit der Historie des Paragraphen 175 beschäftigte. Diese seit 1872 geltende Rechtsvorschrift, welche sexuelle Handlungen zwischen Männern bestrafte, war in der Bundesrepublik im Juni 1994 stillschweigend erledigt worden. Die Arbeiterbewegung, insbesondere deren kommunistischer Teil, stritt bereits in den zwanziger Jahren für dessen Abschaffung, die Nazis hingegen hatten die Bestimmungen verschärft. Zwischen 1933 und 1945 wurden fast 50.000 Männer wegen Homosexualität verurteilt, etwa jeder zehnte kam ins KZ und musste dort den »Rosa Winkel« tragen. Tausende kamen in Haft ums Leben. Eine »Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung« erfasste systematisch all jene, die anders als vorgeschrieben lebten und liebten, und lieferte sie ans Messer.

Der Umgang mit diesem Paragraphen war im geteilten Nachkriegsdeutschland sehr unterschiedlich. In der DDR wurde er seit 1957 de facto nicht mehr angewandt, und elf Jahre später, mit der Einführung eines neuen Strafgesetzbuches, verschwand er. Paragraph 151 StGB der DDR stellte jedoch weiter »sexuelle Handlungen« Erwachsener mit gleichgeschlechtlichen Jugendlichen unter 18 Jahren unter Strafe. Die Volkskammer strich auch diesen Paragraphen ersatzlos, nachdem das Oberste Gericht der DDR in einem Grundsatzurteil am 11. August 1987 erklärt hatte, dass »Homosexualität ebenso wie Heterosexualität eine Variante des Sexualverhaltens darstellt. Homosexuelle Menschen stehen somit nicht außerhalb der sozialistischen Gesellschaft, und die Bürgerrechte sind ihnen wie allen anderen Bürgern gewährleistet.«

In der BRD hingegen wurde unverändert nach den Paragraphen 175 und 175a – in der Fassung von 1935! – geurteilt. Auf dieser Basis kam es zwischen 1950 und 1969 zu mehr als 100.000 Ermittlungsverfahren, wobei jedes zweite Verfahren mit einer rechtskräftigen Verurteilung endete. Ein am 9. März 1989 von den Grünen im Bundestag gestellter Antrag, die Paragraphen ersatzlos aus dem Strafgesetzbuch zu streichen, wurde von CDU/CSU, FDP und SPD abgelehnt.

Nach dem »Beitritt« der DDR zur Bundesrepublik gab es darum auf beiden Territorien eine unterschiedliche Rechtsprechung, denn der Rückschritt im Osten – sofern man dort den Paragraphen 175 wieder eingeführt hätte – wäre zu offensichtlich gewesen, und wenn man ihn auch im Westen getilgt hätte, hätte die Übernahme der ostdeutschen Rechtspraxis der Behauptung vom »Unrechtsstaat DDR« erkennbar widersprochen. Also unterblieb sie. Weil aber in einem Staat nicht zwei unterschiedliche Rechtssysteme auf Dauer bestehen konnten, ließ der Bundestag 1994 den sogenannten Schwulenparagraphen einfach »wegfallen«. Ohne viele Worte darüber zu verlieren. (Allerdings sind bis heute die in der alten Bundesrepublik auf der Basis der Strafgesetzbestimmungen der Nazis verurteilten Homosexuellen weder rehabilitiert noch entschädigt worden.)

»Der letzte Anstoß dazu, dass der demokratische Rechtsstaat das diskriminierende Sonderstrafrecht gegen Homosexualität endlich beseitigte, kam paradoxerweise aus der DDR«, schrieb der Sprecher des Lesben- und Schwulenverbandes Günter Dworek nach jenem »Wegfall« des Paragraphen 175 StGB, der 123 Jahre im bürgerlichen Deutschland gegolten hatte. Insbesondere in der Adenauer-BRD habe »ein massiver Verfolgungsdruck: Razzien, Rosa Listen, Prozesswellen, totale gesellschaftliche Ächtung« bestanden. »Der Religionsphilosoph und Historiker Hans-Joachim Schoeps hat 1963 das bittere Wort geprägt: ›Für die Homosexuellen ist das Dritte Reich noch nicht zu Ende.‹« Und an anderer Stelle schrieb Dworek: »Paragraph 175 diente damit auch weiterhin als Rechtfertigung für Überwachung und Polizeirazzien an Schwulentreffpunkten, ebenso für das Führen von Rosa Listen. Schon 1969 hatte der Mannheimer Staatsanwalt Wolf Wimmer die Parole ausgegeben, ›es geht nichts über ein mit griffelspitzerischer Sorgfalt geführtes Homosexuellenregister‹. Paragraph 175 strahlte negativ weit über das Strafrecht hinaus auf die rechtliche und gesellschaftliche Stellung von Homosexuellen. Bis in die 1980er Jahre gab es immer wieder Fälle, in denen Jugendeinrichtungen mit Verweis auf Paragraph 175 untersagt wurde, homosexuelle Emanzipationsgruppen zu Diskussionen einzuladen. Im schwäbischen Aalen wurde beispielsweise 1982 der Stadtjugendpfleger entlassen, weil er dem örtlichen Schwulenverein im Jugendzentrum einen Tagungsraum zur Verfügung gestellt hatte.«

Ein Auftrag

Das war in der alten Bundesrepublik. Überwachung, Polizeirazzien, Rosa Listen. Nun galt auch für die DDR, was vermutlich in jedem anderen demokratischen Land festzustellen war und ist: Verfassung und Rechtsprechung sind das eine – das andere die gesellschaftliche Wirklichkeit. Traditionen, Verhaltensmuster und Gewohnheiten pflanzen sich in den Generationen fort, deren Veränderung dauert meist Jahrzehnte. Das war einer der Gründe, weshalb ich Anfang der achtziger Jahre von meinem Chef, dem Leiter der Hauptabteilung (HA XX), beauftragt wurde, alles über die Lebenswirklichkeit der Homosexuellen in der DDR zusammenzutragen, wie sie sich und die DDR sahen, was sie bedrückte und was die Gründe waren, dass sowohl die Zahl der Ausreiseanträge als auch die der Selbstmorde über dem gesellschaftlichen Durchschnitt lag.

Ich war zu jenem Zeitpunkt Auswertungschef in der HA XX, und unmittelbarer Anlass für diesen ungewöhnlichen Auftrag von Generalmajor Paul Kienberg war die Entwicklung von Friedens- und Umweltgruppen unter dem Dach der Kirche. In diesem Kontext hatten sich auch Gruppen von Homosexuellen dort gefunden, weniger als zweihundert Personen in der ganzen DDR, die vielleicht in einem Dutzend Gruppen zusammenkamen. Offenkundig bestand der Verdacht bei der Führung des MfS, dass sich dort die gleichen Prozesse entwickeln könnten wie in den Umwelt- und Friedenskreisen, woraus sich Gefahren für die innere Sicherheit der DDR ergeben würden. Das war die damalige Lesart, die – wie wir heute wissen – Ausdruck eines übersteigerten Sicherheitsinteresses war und zu haltlosen Verdächtigungen und überzogenen Reaktionen führte.

Ich recherchierte in den mir zugänglichen Informationsquellen. Im Wesentlichen allein – denn bis zum Ende des MfS sollte es nicht einen einzigen hauptamtlichen Mitarbeiter geben, der sich ausschließlich mit dieser Problematik beschäftigte. Schwulen und Lesben – ich greife vor – waren kein Thema, das die Sicherheit des Staates DDR tangierte, denn das war meine Schlussfolgerung, die ich auf zwei Seiten niederschrieb. Dort erklärte ich erstens, dass das Bedürfnis der Homosexuellen, sich zu organisieren, Reflex auf ihre als unbefriedigend empfundene Lage in der DDR sei. Wenn darauf nicht politisch reagiert werden würde, könnte perspektivisch ein systemkritisches Potential – wir nannten das im MfS »politische Untergrundtätigkeit« – entstehen. Gegenwärtig jedoch war es das nicht. Zweitens bestünde eine gesamtgesellschaftliche Notwendigkeit, dieses Thema konstruktiv zu lösen, insofern als – der Überlegung von Marx folgend – zwischen der »vollen und freien Entwicklung jedes Individuums« und der Entwicklung der Gesellschaft, d. h. deren Charakter, ein dialektischer Zusammenhang besteht. Nicht gegen, sondern nur mit und in der Gesellschaft ist Emanzipation des Einzelnen oder von Gruppen möglich. Drittens nannte ich es paradox, dass einerseits die KPD in der Weimarer Republik für die Rechte der Homosexuellen kämpfte, andererseits wir heute alles unternahmen, dass sich die Homosexuellen unter dem Dach der Kirche versammeln mussten, weil wir ihnen dazu keine Möglichkeit boten.

Danach notierte ich auf sechs, sieben Seiten die wesentlichen Forderungen, die in homosexuellen Kreisen erhoben wurden – und wie wir, also die Institutionen der DDR, darauf reagieren sollten. Zu den nach meiner Überzeugung legitimen Forderungen gehörten beispielsweise die Erlaubnis, Kontaktanzeigen in den Printmedien schalten zu dürfen (denn das wurde aus unerfindlichen Gründen von den Zeitungen strikt abgelehnt), die Zulassung von Veranstaltungen (sie fanden zwar statt, aber stets unter falschem Namen; kam es heraus, gab es Ärger). Man wünschte eine Gleichstellung mit den Heteros bei der Anmietung von Wohnungen und bei der Adoption von Kindern sowie die Abschaffung des Paragraphen 151 StGB, der u. a. den Verkehr Erwachsener mit gleichgeschlechtlichen Jugendlichen kriminalisierte.

Auch wurde die Homoehe gewünscht, was aber eigentlich ohne Relevanz war: Die nichteheliche Gemeinschaft war in der DDR der ehelichen Verbindung ohnehin gleichgestellt, und Steuer- und Erbschaftsangelegenheiten spielten keine Rolle. Es wurde ferner gewünscht, dass man in den Gedenkstätten des antifaschistischen Widerstandes als eigenständige Vereinigung an die von den Nazis ermordeten Homosexuellen erinnern durfte. Der Antrag auf Bildung eines Vereins war 1973 vom Innenministerium mit dem Argument abgelehnt worden, dass eine einzige Position – nämlich der Zusammenschluss aufgrund sexueller Präferenzen – keinen hinlänglichen Grund für die